Franziska Klün

Der Anfang war ein Albtraum

Januar 2014 | JNC News: Er wollte die weite Welt sehen und nicht nur den Familienbetrieb, doch schon früh war klar, dass Alberto Candiani eines Tages die Jeans-Fabrik seines Vaters übernehmen werde. Wie er seine Rolle trotzdem gefunden hat und welche Visionen er für die Branche hat, erklärt er im Interview.

Herr Candiani, Sie sind erst 31 Jahre alt und gelten bereits als einer der führenden Denim-Experten weltweit. Wie macht man das?
Meine Erfahrung reicht ja auch schon ziemlich weit zurück! Ich bin wortwörtlich in einer Denim-Fabrik geboren und aufgewachsen, die Häuser meiner Familie stehen auf dem Gelände von TRC Candiani. Als Kind spielte ich mit Baumwolle, ich habe immer in dieser Umgebung gelebt. An dem Tag, als ich meinen Universitätsabschluss feierte, feierten wir auch meinen Einstand bei TRC Candiani. Nicht einmal für eine Woche wollte mein Vater mich gehen lassen. Insofern liegt meine Expertise in meiner DNA.

Hätten Sie auch ausbrechen und etwas komplett anderes tun können? Hatten Sie eine Wahl?
Leider nein. Am Anfang war das ein Albtraum, schließlich wusste ich lange nicht, ob es mir gefallen wird, eines Tages die Fabrik meiner Familie zu übernehmen. Ich fand Jeans immer gut, aber es war keine große Leidenschaft damit verbunden. Ich bin kein Denim-Fanatiker oder so. Ich interessiere mich für viele andere Dinge – Technologie, Kultur, insbesondere Musik. Ich habe immer selbst Musik gemacht. Erst als DJ, doch als es plötzlich cool wurde aufzulegen und das alle machten, musste ich rebellieren – also habe ich eine Band gegründet, „Army of the Universe“. Uns gibt es weiterhin, wir touren und sind vor allem in Amerika bekannt. Und als es dann bei Candiani ernst wurde und ich dort anfing, gefiel es mir plötzlich doch.

Sie waren 28, als Sie die Firma übernahmen. Fühlten Sie sich je zu jung für dieses große Erbe?
Nein, nie. Aber der Prozess der Übernahme ist auch noch nicht abgeschlossen. Mein Vater ist weiterhin Vorsitzender des Unternehmens – und das ist gut so. Er ist noch präsent in der Firma und löst sich gleichzeitig emotional immer mehr davon.

„Ich musste den Mitarbeitern erst einmal beweisen, dass ich auch in der Lage bin, das Unternehmen zu leiten, und dass ich mehr kann, als nur der Candiani-Sohn zu sein.“

Viele Ihrer Mitarbeiter arbeiten ihr Leben lang bei Candiani, selbst deren Eltern waren bei Ihnen angestellt, voraussichtlich werden ihre Kinder dort arbeiten. Wie wurden Sie aufgenommen?
Ich musste mich in der Firma erst einmal positionieren, neue Ideen entwickeln und den Menschen beweisen, dass ich auch in der Lage bin, das Unternehmen zu leiten, und dass ich mehr kann, als nur der Candiani-Sohn zu sein.

Die erste große Veränderung unter Ihrer Leitung?
Die Art und Weise, wie wir unsere Stoffe präsentieren, haben wir verändert. Wir zeigen unsere Materialien nun in Kleiderform, was bei den Designern sehr gut ankommt. Nachdem uns das alle anderen Jeansfabriken nachgemacht hatten, beschloss ich, ins Marketing zu investieren. Anfangs glaubte ich, das selbst in die Hand nehmen zu können. Doch ich merkte schnell, dass das nicht funktioniert, und holte Simon Giuliani zu uns. Er ist ein absolutes Marketing-Genie.

Wenn Sie das Erbe betrachten, das Sie angetreten haben, worauf sind Sie besonders stolz?
Anfang der 00er-Jahre als es der Wirtschaft unglaublich gut ging, brach in der Denim-Branche eine neue Ära an. Schöner Stretch-Denim war damals noch sehr schwer zu finden. Der größte Erfolg meines Vater und der Firma war es, einen solchen zu entwickeln. Damit wurden wir berühmt, die Nachfrage war riesig. 2004 verdoppelten wir unsere Kapazitäten, investierten eine Menge Geld. In der gleichen Zeitspanne, in der wir vor zehn Jahren 40 Einheiten produzierten, produzieren wir heute 300. Unsere Erfolgsstrategie ist es, immer zu versuchen, so innovativ wie möglich zu bleiben. Und das führe ich so weiter.

78 Prozent der Candiani-Ware ist Stretch-Denim. Gab es je die Befürchtung, Stretch könnte bloß ein Trend sein?
Viele dachten das und gingen davon aus, dass das Material wieder verschwinden wird. Wir aber glaubten dran und heute produzieren wir jede mögliche Form von Stretch. Als wir Ende der 90er damit anfingen, war der Bereich eine gigantische Marktlücke: Stretch, der gut aussieht und bequem ist, gab es einfach nicht. Gleichzeitig änderten sich die Ansprüche der Frauen: Jeans wurden zu einem Fashion-Item, das spielte uns gut zu.

„Handwerk und Industrie sind keine Gegensätze mehr, und wir repräsentieren das meines Erachtens ziemlich gut.“

Sie haben TRC Candiani mal als überdimensionierten Handwerksbetrieb bezeichnet. Wenn wir uns bei Ihnen so umschauen, stehen hier aber doch eine ganze Menge Maschinen.
Es heißt immer, der Handwerksbetrieb sei der Feind der Industrie und andersherum. Ich glaube, das stimmt nicht mehr. Wir sind ein gutes Beispiel dafür, wie man Industrie und Handwerk verbinden kann. Bei uns arbeiten 650 Leute, knapp 40 Prozent von ihnen kenne ich persönlich, die meisten stammen aus der Gegend hier. Ich führe das Unternehmen in der vierten Generation, alles ist familiär und vertraut. Natürlich haben wir große Maschinen und Roboter und all das, gleichzeitig ist der menschliche Aspekt sehr präsent. Handwerk und Industrie sind keine Gegensätze mehr, und wir repräsentieren das meines Erachtens ziemlich gut.

Auf einer Denim-Konferenz sagten Sie kürzlich: „Die Lücke zwischen Innovation und Nachhaltigkeit wurde endlich geschlossen.“ Was meinen Sie damit?
Wir leben heute in einer Zeit, in der es um bewusste Herstellungsverfahren geht, ich nenne das „Conscious Making“. Vor zehn Jahren konnten wir noch keine Produkte herstellen, die nachhaltig und beispielsweise aus recycelter Baumwolle waren und gleichzeitig genauso gut aussahen wie alle anderen Jeans. Heute geht das. Die Lücke, über die wir sprechen, wird auch kleiner, weil die neuen Technologien nachhaltiger sind. Im Färbeprozess kommt man beispielsweise mit sehr viel weniger Wasser und weniger Chemikalien aus.

Aber sehr wenige Fabriken machen Gebrauch davon.
Der Wandel geschieht langsam und er ist nur in wenigen Ländern zu beobachten, das stimmt. Besonders in Italien müssen wir mehr auf unsere Umwelt achten. Und damit meine ich nicht nur die Natur, sondern auch die Arbeiter, deren Arbeitsverhältnisse und deren Sicherheit. Unsere Kunden wissen, dass sie uns vollkommen vertrauen und sich auf uns verlassen können.

Trotz des allmählichen Wandels gilt das Jeansgeschäft noch immer als eine der schmutzigsten Industrien der Welt. Immer wieder sieht man im Fernsehen Dokumentationen über chinesische Produktionsfabriken. Die Bilder vermitteln das Gefühl, man dürfte eigentlich nie wieder eine Jeans kaufen. Hatten Sie jemals grundlegende Zweifel, in der falschen Branche gelandet zu sein?
Nein, das hatte ich nie. Natürlich schockieren solche Filme die westliche Welt und natürlich verändern sie das Bewusstsein, wenn man das nächste Mal in einem Geschäft eine Jeans anprobiert. Dennoch sind das für mich keine Neuigkeiten. Seit langer, langer Zeit weiß ich, wie viel Schmutz die Mode produzieren kann. Aber in Europa, Amerika, auch in der Türkei, Tunesien, Marokko und Ägypten arbeitet niemand mehr mit den veralteten Techniken, die in diesen Filmen gezeigt werden.

Niemand? Da habe ich aber von anderen Beispielen gehört.
Natürlich gibt es Ausnahmen und überall findet man irgendwelche Idioten, die die Regeln nicht verstanden haben. Denim wurde sehr schnell sehr populär, als man mit den Waschungen anfing. Viele wussten anfangs nicht, wie sie die Prozesse am besten handhaben, was wiederum zu einer enormen Wasserverschwendung und dem Missbrauch von Chemikalien führte. Aber heute ist die Situation in vielen Ländern eine andere.

„Die Medien sollten nicht nur auf die Bad Boys der Branche zeigen, sondern auch klarstellen, wie gut es laufen kann.“

Empfinden Sie solche Dokumentationen als reißerisch?
Nein, es ist gut, dass sie ausgestrahlt werden, und ich bin jedes Mal schockiert, dass solche Bedingungen immer noch der Realität entsprechen. Derjenige, der dafür am Ende wirklich verantwortlich ist, ist der Besitzer der Fabrik. Dennoch sollten die Medien nicht nur auf die Bad Boys zeigen, sondern auch klarstellen, wie gut es laufen kann.

Sie sagen, es sei der Fehler der Fabrikbesitzer. Sind nicht alle in der Kette Beteiligten verantwortlich: der Kunde, der das günstigste Produkt will, die Marke, die die Preise so stark drückt, und der Fabrikbesitzer, der das ermöglicht?
Doch, natürlich. Es gibt einige große Marken, die sich einfach nicht darum scheren und für die nur eines gilt: Hauptsache billig. Wenn man Jeanshosen für neun Dollar irgendwo hängen sieht, ist vollkommen klar, dass in dem Produktionsprozess irgendetwas grundlegend falsch läuft. Anders geht sowas nicht. Vielleicht kann man noch ein T-Shirt für das Geld herstellen und verkaufen – aber eine Hose?

Wie viel muss ein Paar Jeans mindestens kosten?
Stellen wir uns mal eine Welt ohne Steuern vor. Dann müssten wir allein für die Baumwolle 1,50 Dollar pro Hose kalkulieren. Man färbt, wäscht, verschifft. Da kommt man pro Meter Stoff auf mindestens drei Dollar, für ein Paar Jeans braucht man also mindestens 4 Dollar – und da reden wir nur vom Stoff. Dann muss der auch noch vernäht werden, wieder gewaschen, wieder verschifft. Wenn eine Jeans 20 Dollar kostet, hat noch niemand daran Geld verdient.

Und wenn Jeans 300 Euro kosten … ?
Dann heißt das natürlich nicht, dass in der Produktion alles richtig läuft. Mit solchen Preisen kauft man sich einen gewissen Luxus hinzu.

Das ist verwirrend für den Kunden. Woran kann er sich orientieren?
Seit Häuser wie H&M, Zara oder Topshop vor zehn Jahren anfingen, immer bessere Produkte zu lancieren, wissen die Menschen nicht mehr, ob es überhaupt noch einen Qualitätsunterschied zwischen Luxusmarke und Fast Fashion-Kette gibt. Nicht selten ist es dasselbe Material, das vielleicht noch in unterschiedlichen Ländern weiterverarbeitet wurde – und bei den einen am Ende für 30 Euro im Laden hängt und bei den anderen für 300. Daher sollte der Konsument heute darauf achten, dass er etwas Besonderes erhält, wenn er mehr Geld ausgibt. Einen Mehrwert. Ob der Stoff besonders gut gemacht ist, oder ob etwas „Made in USA“ ist, was derzeit die Amerikaner sehr mögen. Auch wenn dieser Hype spät kommt, es gibt ihn zumindest. In Italien interessiert sich niemand dafür, ob etwas „Made in Italy“ ist oder nicht.

„Sobald es um High Fashion geht, interessiert sich niemand mehr dafür, wo etwas hergestellt wird. Das gilt nicht nur für Italien, sondern weltweit.“

Im Gegensatz zu Deutschland.
Viele Italiener glauben, was in ihrem Land hergestellt wird, sei zu teuer. Und unglücklicherweise geschieht das auch häufig, einige Hersteller setzen die Preise zu hoch an. In Deutschland genießt Italiens Textilindustrie ein besseres Image. Aber sobald es um High Fashion geht, interessiert sich niemand mehr dafür, wo etwas hergestellt wird. Und das gilt nicht nur für Italien, sondern weltweit.

Wenigstens wird in Italien überhaupt noch Kleidung hergestellt.
Auch in Frankreich wird noch ein wenig produziert, in Portugal ja auch. Großbritannien ist stark, wenn es um Schuhe und Leder geht. Doch ich frage mich: Warum sind wir so dumm und so wenig pragmatisch? Warum messen wir der Nahrungsmittelindustrie so eine große Bedeutung bei, wollen genau wissen, woher unser Mozzarella stammt, aber bei unserer Jeans interessiert es uns nicht? Solange der Konsument sich nicht dafür interessiert, woher seine Produkte stammen, sehe ich keine sonderlich rosige Zukunft für Dinge aus Europa. Alles was wir tun, ist Billigwaren aus dem Ausland zu importieren, damit wir mehr Geld ausgeben können für Sachen, die wir nicht brauchen.

Als in den 00er-Jahren viele Marken ihre Produktionen nach Asien verlagerten, brachen für Italiens Textilbranche sehr schwere Zeiten an. Wie war es bei Candiani?
Es war in Ordnung. Vor 2008 lief es wirklich gut, dann wurde es schwieriger. Das hatte nicht nur mit der Krise zu tun, sondern auch damit, dass Denim nicht sonderlich gefragt war. Wir haben diese Zeit genutzt, um Neues zu entwickeln. Zum Beispiel haben wir eine Abteilung geschaffen, in der nur weißer Denim entsteht. Vor 2008 haben wir maximal eine halbe Million Meter davon verkauft, 2011 waren es knapp fünf Millionen. Jetzt sinken diese Zahlen wieder, Blue Denim kommt zurück. Dennoch: Der Niedergang der italienischen Textilindustrie begann nicht erst in den 00er-Jahren, sondern bereits in den 90ern. Und die Regierung tat nichts dagegen.

„Da sitzt einer der wichtigsten Politiker Italiens neben mir und kann nicht fassen, dass in diesem Land Denim produziert wird! Dass so etwas möglich ist!“

Wie ist die Situation heute? Gibt es Initiativen zum Erhalt der Branche?
Da hat sich nichts getan und da tut sich nichts. Ich kann eine ziemlich erschreckende Anekdote erzählen. Leider darf ich keine Namen verraten, aber ich saß bei einem Essen neben einem der fünf Top-Politiker unseres Landes, er hat zu der Zeit ein Ministerium geleitet. Ich war der jüngste Kerl am Tisch und er fragte mich, was ich so tue, also erzählte ich ihm von der Denim-Industrie und erklärte ihm alles. Nach einer halben Stunde fragte er: „Du machst also Jeans in China und importierst sie?“ Und ich erwiderte: „Nein, wir machen Denim in Italien.“ Ich meine, da sitzt einer der wichtigsten Politiker des Landes neben mir und kann nicht fassen, dass so etwas in diesem Land passiert! Wir produzieren 30 Millionen Meter Denim jedes Jahr und er sollte nicht überrascht, sondern stolz sein! Sie sollen uns ja keinen Preis verleihen dafür, aber sie sollten froh darüber sein, dass es uns gibt, und der Branche etwas mehr Bedeutung beimessen.

Wer sind heute die größten „Made in Italy“-Fans?
Das sind die Japaner. Dort hat Italien das beste Image. Man kann die beiden Länder auch gut miteinander vergleichen. Viele unserer italienischen Kunden gehen zum Beispiel nach Japan, wenn sie etwas Außergewöhnliches machen wollen. Mit dem „Made in Japan“-Label, glauben sie, würde die Mode für den Kunden noch besonderer, was für uns völlig in Ordnung ist. So ist das Image Japans in Europa.

Sie sind Gründer des Blogs Denimfreaks.com. Was ist die Idee dahinter?
Freunde und ich wollten eine Art Denim-Liga gründen, um mit den Leuten aus der Branche zu sprechen. Zunächst war es ein Blog, jetzt entwickelt sich das Ganze mehr in Richtung Online-Magazin.

Was ist die Aussage dahinter?
Eine meiner Erkenntnisse lautet: Wer in der Branche politisch korrekt sein will, sagt nicht, was er denkt. Da wollen wir gegensteuern. Wir wollen die Leute dazu bewegen, gut und schlecht über die anderen zu sprechen. Wir wollen kein weiteres soziales Netzwerk schaffen. Kein Denim-Network, in dem man sich über nerdiges Zeug wie Zahlen und Fasern austauscht. Die Menschen sollen miteinander reden. Ihre liebsten drei Brands verraten, aber auch die drei, die sie am schlechtesten finden. Endlich mal Tacheles!

Der 1938 gegründete Familienbetrieb „Tessitura di Robecchetto Candiani S.p.A.“, kurz „TRC“ oder einfach „Candiani“, wird heute in vierter Generation von Alberto Candiani geleitet. Zwar spricht man bei TRC nicht über seine Kunden, so will es die Philosophie des Hauses, dennoch ist bekannt, dass die meisten großen Premium-Labels ihre Denim-Ware aus den Hallen in Robecchetto in der Region Lombardei beziehen. Heute entstehen hier jährlich etwa 30 Millionen Meter Jeansstoff, 78 Prozent davon ist Stretch-Denim.

Januar 2013 | JNC News