Messerscharfe Mode
Juli 2013 | JNC News: Seit 129 Jahren ist Victorinox bekannt für die kleinen Roten mit dem weißen Kreuz und den scharfen Klingen. Nun setzt das Schweizer Familienunternehmen auch auf funktionelle Sportswear mit urbanem Look. Wie aber überträgt man das Image eines Taschenmessers auf Jacken, T-Shirts und Hosen?
Wäre er später geboren worden, sagt Joachim Beer, hätte man ihm wohl ADHS attestiert. Er sei ein nervöser Typ, im Kopf immer hellwach und auf Zack, das passe gut zu dem schnellen Leben in New York, das brauche man hier.
Joachim Beer, 50 Jahre alt, in Remscheid in Nordrhein-Westfalen geboren, ist bei Victorinox für den Ausbau des Bekleidungssegments in der Funktion des President Global Fashion verantwortlich. Seit gut vier Jahren wohnt er in Big Apple. Und seitdem lebt er ein Leben, das so ziemlich das Gegenteil desjenigen seiner in der Schweiz ansässigen Kollegen ist. Im beschaulichen Ibach im Kanton Schwyz ist Victorinox seit 1884 angesiedelt. Auch hier wird fleißig gearbeitet, 110.000 Messer werden dort täglich gefertigt – aber mit der Schnelllebigkeit New Yorks hat das Ibacher Leben nicht viel gemein. „New York ist wahnsinnig kompetitiv, jeder Tag ist ein Kampf“, sagt Beer. „Aber ich mag das, es lässt sich gut hier leben.“
Auf der ganzen Welt sind die kleinen roten Ibacher mit dem weißen Kreuz und den scharfen Klingen bekannt. Nun aber soll dieses Kreuz auch für funktionelle Sportswear stehen, für Kleidung mit urbanem Look und hochwertigem Charakter. Doch wie geht so etwas? Wie lässt sich der gute Ruf eines Schweizer Traditionstaschenmessers auf Kleidung übertragen, auf Hemden und Jacken, auf Hosen und Sweatshirts?
Pragmatismus ist Beers Ansatz – wie bei allen Herausforderungen des Lebens. Sich fragen, was man hat, wo man hinwill, was man dafür braucht. 2009 war Beer nach New York gegangen, um für Hugo Boss das US-Geschäft zu leiten, die Ehefrau und die zwei Kinder im Gepäck. Wenn man bereits an vielen Orten gelebt hat – erst in Remscheid, dann in Künzelsau, später dann in München, Stockholm, Metzingen, Stuttgart –, dann will man schnell ankommen, heimisch werden, Hauskauf inklusive. Doch was, wenn dann etwas schiefgeht? So wie bei Joachim Beer, für den bei Hugo Boss plötzlich kein Platz mehr war, nach zehn Jahren. „Das gehört dazu“, sagt Beer. Klar, das sei schon hart, aber auf der anderen Seite ja wiederum auch gut. Zehn Jahre im selben Unternehmen, da ist auch mal wieder ein Perspektivenwechsel nötig. Da ist sie also, die Beersche Lösungsorientiertheit.
Und so ging er auch seine neue Aufgabe an. Das Traditionsunternehmen aus der Schweiz mit seinen weltweit 1.500 Mitarbeitern, das neben Messern und Bekleidung auch Parfüm, Reisegepäck und Uhren produziert, wollte mit dem in Amerika ansässigen Bekleidungssegment nach Europa expandieren. Da brauchte es jemanden wie Beer. Einen, der so exzellent in der Branche vernetzt ist und neben Hugo Boss auch für Joop! Jeans, für Mac und Marc O’ Polo tätig war. Und dann lebte Beer ja auch bereits dort, wo man ihn brauchte. In New York, wo die Schweizer seit 2001 ihre Bekleidungslinie aufbauen. „Anfangs hatten die Kollektionen keinen klaren Fokus“, sagt Beer. „Die Sachen waren ein Mix aus funktioneller Sportswear und Outdoor-Kleidung.“ Erst mit Joachim Beer kam auch die Vision hinzu, den bis dahin zweitkleinsten Geschäftsbereich des Unternehmens mit modischem Anspruch zu kombinieren, und ihn in etwas Großes zu verwandeln.
Lange bildete das Messer eine sehr gesunde Basis für Victorinox. Nie musste man sich Gedanken machen, was sonst noch alles möglich wäre. Das Geschäft lief ja mehr als gut. Doch dann kam 2001. Der 11. September markierte auch in Ibach einen Wendepunkt. Plötzlich galten die scharfen Klingen nicht mehr als grandioses Corporate-Produkt. Messer als Werbegeschenk? Das ging nun nicht mehr. Der Umsatz brach bei Victorinox um 40 Prozent ein. Doch man erkannte die damit verbundene Chance, sich mit der Marke breiter aufzustellen, das gute Image, das man weltweit seit mehr als einem Jahrhundert genoss, auch in anderen Bereichen zu nutzen.
Ein paar Jahre brauchte es dann trotzdem, bis Joachim Beer sich und seinen New Yorker Mitarbeitern die einfache, aber entscheidende Frage stellte: Wofür steht das rote Messer? Für Qualität und Innovation, lautete die Antwort, für Funktionalität und ikonisches Design. Diese Schlagworte übersetzte er in eine Markenessenz, die heute so etwas wie den Leitfaden der Bekleidungslinie von Victorinox bildet: Die Ware muss wie das Messer eine gewisse Sympathie hervorrufen, mit klaren Details überzeugen, einem cleanen Design und auch ein bisschen Witz. „Wir wollen nicht zu sehr nach Berg und Outdoor aussehen, sondern urban und modern anmuten“, sagt Beer. Funktional muss die Ware sein, ganz so wie der Travelblazer: ein Jackett aus Softshell oder Travelpoly, das zusammengeknüllt in jede Reisetasche passt und das, wenn man es herausnimmt, trotzdem keine Falten wirft.
500 Millionen Dollar Umsatz verzeichnet Victorinox heute jährlich. Als Beer vor drei Jahren anfing, war sein Geschäftsbereich „mit etwas unter 20 Millionen Dollar Umsatz eher ein Sanierungsfall“, sagt er. 2012 gelang es ihm, diesen um 20 Prozent zu steigern, für 2013 rechnet er mit Einnahmen um die 35 Millionen Dollar.
Joachim Beer spricht schnell. Hat man ihn am Telefon, muss man – so wie er – auf Zack sein, um ihm zu folgen. „Und dann traf ich Christopher Raeburn“, sagt Beer. „Kurz nachdem ich bei Victorinox angefangen hatte.“ Da war er auf der Suche gewesen nach jemandem, der ihn und sein 30-köpfiges Team inspirieren könnte.
Der britische Designer, der am renommierten Central Saint Martins College in London seinen Abschluss in Modedesign gemacht hat, gilt derzeit als einer der spannendsten Protagonisten der Branche. Er ist dafür bekannt, seine Sportswear-Kollektionen aus alten, gebrauchten europäischen Militärstoffen zu fertigen. „Er als derjenige, der mit dem Überschuss aus Militärstoffen arbeitet, und wir als diejenigen, die Schweizer Armeemesser herstellen – das passte einfach“, sagt Beer. „Remade in Switzerland“ war der Name der ersten Kooperation. Der 30-jährige Brite war nach Ibach gereist und übertrug seine Arbeitsmethode auf die Schweiz und Victorinox. Acht Designs entwarf er, limitiert war die Kollektion auf 100 Stück und alles ganz nach dem Raeburnschen Prinzip aus alten Militärstoffen – nur dass die Stoffe dieses Mal ausschließlich aus der Schweiz stammten.
Was 2010 in Form einer Capsule Collection begann, wurde Anfang des Jahres zu einer festen Zusammenarbeit ausgeweitet. Zwar entwirft der 30-jährige Raeburn immer noch für sein eigenes gleichnamiges Label, aber er ist als Artistic Director auch fest im Designteam von Victorinox tätig. Eine Kollektion nennt sich Protect. Raeburn taufte sie so, da er auf den Ursprungsgedanken von Kleidung aufmerksam machen wollte: den Körper vor den Elementen zu schützen. Die multifunktionalen Jacken, Ponchos und Westen avancierten schnell zu Bestsellern der Marke. Einmal im Monat besucht Raeburn das Büro in New York, „ansonsten telefonieren wir fast jeden Tag“, sagt Beer. Ob das gut funktioniert? Na klar. Gibt es Verbesserungswünsche? Nö, keine. Christopher Raeburn muss also genauso auf Zack sein wie Joachim Beer.
Juli 2013 | JNC News