Franziska Klün

Hongkong das perfekt organisierte Chaos

Dezember 2014 | Lufthansa Woman’s World: „Wer eintaucht in die Megametropole, wird süchtig nach ihr. Gleichzeitig muss man ständig vor ihr fliehen.“ So erlebt es Cara G McIlroy, eines der gefragtesten Models der Stadt

Cara G McIlroy wartet inmitten der Häuserschluchten im Finanzdistrikt Hongkongs. Breites Grinsen, wacher Blick, herzliche Begrüßung. „Lasst uns fliehen!“, ruft sie und winkt nach einem Taxi. Roxy, ihre große graue Hündin, legt sie einfach auf den Schoß, das sei hier kein Problem. Stimmt – der Taxifahrer beachtet den zotteligen Mischling nicht einmal. 20 Minuten geht es steil bergauf, viele Kurven, viele rote Ampeln, Stop-and-go. Der Verkehr in Hongkong kann reichlich Zeit und Nerven kosten.

Es ist die Straße, die hinaufführt bis zum Victoria Peak, zu der berühmten Aussicht also, ein beliebter Treffpunkt für Touristen und Einheimische. Von dort genießt man einen sagenhaften Blick über den Victoria Harbour und die Sieben-Millionen-Stadt, die sich hier am Fuße des 552 Meter hohen Bergs breit und breiter gemacht hat, umringt von etwa 250 kleinen Inseln.

„Ohne Orte wie diese würde ein Leben in dieser Stadt für mich nicht funktionieren“, sagt McIlroy. Die 30-Jährige ist eines der gefragtesten Models Hongkongs, sie läuft für Dior und Max Mara, ist Liebling der chinesischen Elle, posiert für Kampagnen von Esprit bis Jimmy Choo. 2011 gründete sie Genie Juicery, ein Unternehmen für frisch gepresste Säfte, das mittlerweile 30 Mitarbeiter beschäftigt. Wie vollgepackt ihr Alltag ist, verrät schon ein Blick auf ihren Instagram-Account: Jeden Tag postet sie hier für über 12000 Follower Schnappschüsse aus ihrem Leben als Mutter, Model und Unternehmerin. Sie sagt, sie müsse das tun, um die Menschen möglichst viel an ihrem Alltag teilhaben zu lassen. „In meinen Jobs zählt nicht mehr, wie viel Talent oder welche Referenzen ich habe, heute zählt, wie viele Follower ich auf Instagram vorweisen kann.“ Immer wenn es ihr Terminkalender erlaubt, steigt sie in ein Taxi und lässt sich hier absetzen, ein kleines Stück unterhalb des Peak.

Mit schnellen Schritten geht sie voran. Ein schmaler Weg schlängelt sich am Berg entlang. Es ist grün und heiß und feucht. Im Herbst pressen sich die Ausläufer der Tiefdruckgebiete in die Stadt hinein, immer wieder kommt es zu Taifun-Warnungen. Die Luftfeuchtigkeit wird für viele der europäischen Besucher zur großen Herausforderung.

„Willkommen in meinem Paradies“, sagt Cara, zieht ihre Schuhe aus und hält ihre Füße in den Wasserfall, der das Ende des Wegs markiert.

Sie sind in einem kleinen Dorf im Süden Australiens aufgewachsen, auf einer Farm mit vielen Tieren. Sie beschreiben sich selbst als Tierliebhaberin und Landei. Was machen Sie ausgerechnet in Hongkong?
Ich war 20, hatte gerade mit dem Modeln etwas Erfolg und lebte in Singapur, als mich eine Agentin zum neuen „Gesicht der Stadt“ machen wollte. Mir war klar, dass Hongkong wahnsinnig viele Karrieremöglichkeiten bietet, also zog ich her – ich wollte das Leben in dieser Megametropole kennenlernen.

Sie scheinen es zu mögen. Ihr Umzug liegt mittlerweile zehn Jahre zurück …
Ich habe noch nie so lange an einem Ort gelebt. Ich bin hier zu Hause, fühle mich sicher und wohl. Gleichzeitig weiß ich, dass ich hier nicht alt werden will. Ich will auch nicht, dass meine Tochter hier groß wird.

Warum das?
Weil die Stadt nichts für Kleinkinder ist. Sie ist dreckig, sie ist anstrengend. Kinder können hier nicht einfach herumtollen und in der Natur spielen, so wie ich das in Australien konnte.

Dennoch lieben Sie Hongkong?
Abgöttisch, ja! Hier treffen sämtliche Kulturen und Nationalitäten aufeinander, alles ist gigantisch, obwohl es sich nicht so anfühlt. Ständig trifft man Bekannte auf der Straße. Gerade weil die Stadt so groß und facettenreich ist, sucht sich jeder seine Ecken. Die Menschen sind gut gelaunt, die meisten lieben, was sie tun. Dadurch entsteht eine besondere, eine intensive Atmosphäre. Hongkong ist ein einziger riesiger Gegensatz, das perfekt organisierte Chaos. Man ist süchtig nach dieser Stadt, gleichzeitig gibt sie einem das Gefühl, man müsste immerzu vor ihr fliehen. Die meisten behaupten ständig: Nächstes Jahr zieh ich weg.

Aber dann bleiben sie doch, so wie Sie und Ihr Mann …
Wir ziehen nächstes Jahr nach Kanada! Oder übernächstes.

Später, zurück in Central Hongkong, werden Cara und ihr Mann Jesper McIlroy, der heute die Fotos für diese Geschichte macht, häufig erkannt. Cara erhält eine Nachricht auf Facebook, ob Jesper sie wirklich mitten auf gefährlichen Kreuzungen fotografieren müsse. „You are my favourite model. Please be more careful!“, schreibt jemand.

Auch im Dragon-i, einem Restaurant, das sich abends in Bar und Club verwandelt und selbst mittags einen Türsteher beschäftigt, erkennt man die McIlroys: „Sie waren lange nicht hier! Wir haben Sie vermisst.“ Der Restaurantmanager besteht darauf, uns eine von ihm getroffene Auswahl der aktuellen Dim-Sum-Spezialitäten zu servieren. Dazu gibt es Jasmintee und frisch gepressten Orangensaft. Er erklärt uns, dass man das in Hongkong sehr beliebte Mittagsgericht nur dann in Sojasauce tunken sollte, wenn es einem nicht schmeckt. Eigentlich würde zu jedem Dim Sum auch eine bestimmte Sauce gehören, durch die sich der individuelle Geschmack der kleinen Gerichte entfalte. Dass diese Tradition in vielen Lokalen missachtet wird, kommt für ihn einer Sünde gleich. „Ich liebe Dim Sum“, sagt Cara, „das einzige Problem damit ist, ich habe in zwei Stunden wieder Hunger.“

Wie gut, dass wir just zwei Stunden später auf den Straßenmärkten Hongkongs unterwegs sind, wo es alles gibt: Obst und Gemüse, den sehr geschätzten Zitroneneistee,
frisch zubereitete Eiscreme, Süßes, Snacks. Wenn Cara Zeit zum Einkaufen findet, dann kommt sie hierher, nach Kowloon, auf die andere Seite der Stadt.

Hier reihen sich die Hongkonger Shopping-Legenden aneinander: der Markt für Vögel, der für Blumen, jener für Textilien. Letzterer nennt sich „Ladies Market“ und ist ein belebtes Gewirr aus Ständen für günstige Schuhe, Shirts und Dessous. Auch Kinderspielzeug ist hier zu finden sowie Asiens derzeit wohl gefragtestes Accessoire: der Selfie-Stick.

Auf dem Ladies Market erhält man ganze Outfits für fünf Euro, „und die sind teils wirklich toll, man muss nur ein bisschen graben“, sagt Cara. Wenige Querstraßen weiter bezahlt man allein für eine Jacke nicht selten das Hundertfache von dem, was sie hier kosten. Sämtliche Luxuslabels dieser Welt sind mit mehreren eigenen Stores in Hongkong vertreten, Louis Vuitton zum Beispiel betreibt acht Geschäfte in der Stadt, Chanel sogar neun.

Privat zieht Cara die wuseligen Straßenmärkte den gigantischen, hochglanzpolierten Shopping-Malls vor, von denen es in der Stadt jede Menge gibt – außer sie ist auf dem Weg zu ihrem eigenen Laden in der IFC Mall, einem der bekanntesten Einkaufszentren der Stadt.

Fast zwei Jahre hat sie gebraucht, um die Vermieter zu überzeugen, ihr eine kleine Fläche zu vermieten. Junge, nicht etablierte Firmen wie Genie Juicery wollen sie hier eigentlich
nicht. Sie hat es trotzdem geschafft, im August konnte sie eröffnen.

Wenn Sie Hongkong tatsächlich eines Tages verlassen sollten, wie sehr werden Sie das Tempo der Stadt und den Rummel um Ihre Person vermissen?
Das Tempo vielleicht, den Rummel eher nicht. Ich sehne mich danach, mein Telefon auch mal ausschalten zu können. Das tut in Hongkong niemand, hier arbeiten alle ständig. Die Stadt kann einen ziemlich stressen, gleichzeitig schafft man hier
Dinge, die anderswo so nicht möglich wären. Ich frage mich manchmal, warum ich mir das alles antue, die viele Arbeit, den
Druck. Dann versuche ich, einen Schritt zurück zu machen und mir anzusehen, was ich in den vergangenen zehn Jahren
erreicht habe. Das zeigt mir, ich bin auf dem richtigen Weg!

Dieser Weg soll Sie nach Kanada führen. Warum ausgerechnet dorthin?
Wir wollen näher bei unseren Familien sein. Jespers Eltern wohnen in den USA. Der Plan ist, erst dort zu leben und irgendwann nach Australien zu ziehen, in die Gegend, in der meine Familie lebt.

Das klingt nach ewigem Nomadentum …

Ich kenne es nicht anders. Als Kind bin ich ständig umgezogen, das war okay, ich war eine Außenseiterin, schon wegen meines Aussehens. Der Vater meiner Mutter war halb Chinese, halb Thailänder, meine Großmutter kommt aus dem Jemen. Meine andere Großmutter war halb Schweizerin, halb Deutsche, mein anderer Großvater war Ire. Optisch passte ich nicht nach Australien. In dem kleinen Dorf, wo ich die ersten Jahre lebte, hat man mich das spüren lassen. Als ich ein Kind war, gab es nur mich und meine Tiere.

Draußen ist es dunkel geworden, die Wolkenkratzer Hongkongs sind hell erleuchtet. Cara schaut auf die Uhr. Wenn es okay ist, dann möchte sie jetzt gern zu ihrer sieben Monate alten Tochter, so lange war sie noch nie von ihr getrennt. Kurz vor Mitternacht postet sie noch ein Foto auf Instagram: „At home at last. Thanks Lufthansa“, schreibt sie. Zu sehen sind sie und Jesper auf der Couch. Für heute sind sie angekommen.