Franziska Klün

Bye Bye It Bag

August 2014 | Petra: Immer mehr Frauen wurden in letzter Zeit ohne teure Handtasche gesehen. Stattdessen
 tragen sie Telefone und Portemonnaies lose in der Hand. Wollen sie uns damit etwas sagen? Ist das liebste Accessoire nicht mehr angesagt – oder ist das nur eine Mode?

In diesen Wochen werden die Trends gemacht. Auf den Laufstegen der Fashion Weeks von New York, London, Mailand, Paris – und natürlich drum herum, auf den Straßen. Wenn sich It-Girls und Celebrities in den Zuschauerreihen versammeln und Bloggerinnen ihre Streetstyles ausführen, sieht die Welt ganz genau hin, um herauszufinden: Was tragen sie? Wobei die Frage in diesem Sommer eher lauten sollte: Was tragen sie nicht? Denn schon im Winter war zu beobachten, was sich aktuell fortsetzt. Die Schultern der weiblichen Mode-Avantgarde bleiben vermehrt frei, nichts baumelt mehr um den Körper, es fehlen – ganz eindeutig – die It-Bags. Stattdessen tragen die Frauen ihre Utensilien wie Smartphone, Portemonnaie und VIP- Einladungen ganz unverpackt in der Hand. Da drängen sich Fragen auf: Bahnt sich eine Taschen-Krise an? Ist es womöglich das Ende der It-Bags? Der Anfang einer Revolte? Und wenn ja, was ist die Aussage dahinter?

Wir erinnern uns: It-Bags, das sind die Taschen, die plötzlich alle haben wollen. Weil irgendeine Stilikone das Modell zu ihrem neuen Favoriten erkoren hat oder das Taschendesign einen anderen bedeutsamen Nerv trifft. Man zahlt besonders astronomische Summen für sie und manchmal sind sie über Wochen, wenn nicht gar Monate ausverkauft. Losgetreten hatte den It-Bag-Wahnsinn einst Tom Ford. In den 90ern, als die Frauenmode immer unauffälliger wurde, erkannte er, welches Potential sich in dem kleinen, praktischen Accessoire versteckt. Ford war einer der ersten, der Models mit Handtaschen über den Laufsteg schickte. Heute sagt man, er habe so die gesamte Modebranche auf den Kopf gestellt. Ein berühmtes Zitat von ihm lautet: „Wenn eine Tasche attraktiv ist, gibt sie dir ein gutes Gefühl. Mehr noch – du willst sie haben oder sterben.“ Die Modehäuser begannen, die Preise für Handtaschen zu steigern und deren Auflagen zu senken. Aus dem Accessoire wurde ein Must-have und Wartelisten zur Regel. Fendi lancierte die Baguette, Christian Dior die Saddle Bag, Chloé die Paddington – sie alle gelten heute als It-Bag-Klassiker. 2005 machten diese Klassiker Handtaschen erstmals zum meistverkauften Produkt in der Damenmode. Seitdem klettern die Preise.

Und so avancierten It-Bags zu Status-Symbolen aus Leder. Was den Männern ihr Porsche, war den Frauen nun ihre Chanel, Céline oder Chloé. Für die großen Luxuskonzerne erweisen sich diese Status-Symbole natürlich als hochrentables Geschäft. Die Gruppe LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy) zum Beispiel, so schätzen Experten, soll bis zu 70 Prozent ihres Gewinns nur mit dem Verkauf der dem Konzern gehören um die 60 weitere Luxusunternehmen. Seit
 Jahren gelten Handtaschen als das am schnellsten wachsende Segment im Luxusgeschäft. Eine Studie besagt: Kommt eine Frau zu Geld, rangiert eine teure Handtasche in ihrer Wunschliste unter
den Top Ten. Nun könnte man natürlich behaupten, die Frauen seien einfach in Eile, mal eben schnell vor die Tür gehuscht, gleich 
geht es wieder hoch ins Apartment, ins Hotel oder doch nur zurück an den Schreibtisch – wer braucht da schon einen Hochkaräter aus
 Leder bei sich? Doch so wie die It-Bag jahrelang ein Statement für 
Luxus und Stilkenntnis war, sollte der offen zur Schau getragene 
Verzicht auf sie auch als Aussage gewertet werden. Erst recht, wenn 
man bedenkt, wie innig viele der Beziehungen von Frauen zu ihren 
Taschen sind.

Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann kennt sich mit dieser speziellen Form der Beziehung bestens aus. Er hat 18 Monate lang daran gearbeitet, „Taschen zum Sprechen zu bringen“, wie er in seinem Buch „Privatsache Handtasche“ (UVK Verlagsgesellschaft, 19,99 Euro) schreibt. Auf knapp 200 Seiten erklärt er, was er über Taschen und ihre Trägerinnen so herausfinden konnte. Zum Beispiel, dass eine Tasche „alle Gefühle dieser Welt enthält – von kurzen Hassanfällen bis zu heftiger Liebe“. Er schreibt weiter: „Es gibt Taschen, über die man sich ärgert (wenn das Mobiltelefon darin Verstecken spielt), und Taschen, die wirklich heiß und innig geliebt und wie Identitäts-Trophäen zur Schau getragen werden (meine
 Tasche, das bin ich).“ Auf die Frage, welche Erklärung er für den aktuellen Hang der Damen habe, diese Identitäts
trophäen daheim zu lassen, antwortet der Soziologe: 
„Mode dient nun mal auch dazu, Träume zu repräsentie
ren“. Und dass die Frauen, die in der Mode als Avantgarde
gelten und nun ihre Taschen vermehrt unbenutzt lassen, 
diese Träume und Sehnsüchte ebenso repräsentieren
würden wie die Kollektionen selbst.

Seine These: Nachdem die Taschen in den vergangenen
 Jahrzehnten immer schwerer und größer wurden
 (allein von 2003 bis 2008 soll das durchschnittliche 
Gewicht um 38 Prozent gestiegen sein), würden Frauen 
sich heute nach einem freiheitlicheren Lebensgefühl 
sehnen und die Last des Alltags nicht mehr immerzu
mit sich herumschleppen müssen. „Sie erschweren die
 Bewegungen und belasten die Schultern“, meint Kaufmann. Blickt man auf die Liste der aktuellen „Most 
Wanted Bags“ bei Net-à-Porter, stellt man fest: Es sind 
die kleineren Entwürfe von Marken wie Proenza
 Schouler, Jil Sander oder Fendi auf die die Frauen jetzt
setzen. Hat Jean-Claude Kaufmann also recht, steckt 
nur die Sehnsucht nach mehr Leichtigkeit hinter
 dem Verzicht? Ein weiterer Trend lässt noch anderes 
vermuten. Denn die Entwürfe werden strenger – und 
maskuliner. Da sind die kantigen Willow Clutches von
 Mulberry oder die neuen Designs von Aigner und pb0110, die wie klassische Aktenkoffer anmuten. Sie alle könnten genauso gut für Männer entworfen sein. Hat die It-Bag vielleicht ausgedient, weil sie mal glänzend-glitzernd, mal mit großer, goldener Schnalle immer für Weiblichkeit steht? Ist der Verzicht oder das Greifen zu einem maskulin anmutenden Taschendesign also die logische Konsequenz für alle Frauen, die die Karriereleiter hochklettern wollen?

In der Politik tragen Frauen auch eher selten Handtaschen. So selten sogar, dass es sämtlichen Medien eine Nachricht wert ist, wenn Angela Merkel mal wieder die Farbe ihrer Longchamps-Tasche wechselt. Dem französischen Traditionshaus hält die Kanzlerin seit Jahren die Treue. Kaufmann meint: „Taschen sagen viel über die Trägerin aus, auch über ihre Schwächen. Daher lassen viele Frauen andere ungern hinein schauen. Die Inhalte sind, wie schon mein Buch verrät, Privatsache.“

Einem, dem noch keine Tascheninnenansicht verwehrt blieb, ist Philipp Bree. Der Erbe des Lederwarenimperiums hat sich vor anderthalb Jahren mit der Marke pb0110 selbstständig gemacht und seinem Bruder die Führung der 1970 gegründeten Marke Bree allein überlassen. Spricht man mit Philipp Bree, verrät er, dass er außerordentlich gerne in Handtaschen blickt. „Bis jetzt sagte noch keine Frau ,Nein‘.“ Er habe über die Jahre eine charmante Herangehensweise entwickelt, wie genau die aussieht, bleibt allerdings sein Geheimnis. „Natürlich genieße ich auch einen Sonderstatus. Die meisten wissen ja, was ich beruflich tue“ sagt Bree. Und vielleicht würden die Frauen auch hoffen, dass so endlich jemand die perfekte Handtasche entwirft. Bree kann sich nicht vorstellen, dass der Verzicht auf die Handtasche etwas mit einer Adaption an die Codes der männlich dominierten Führungsriegen zu tun hat. „Es scheint mir viel mehr ein Statement gegen den It-Bag-Wahnsinn zu sein“, sagt er. Nachdem die Tasche sehr einfach als Aushängeschild zu benutzen sei, habe sich das Produkt in den letzten 15 Jahren stark entwickelt. „Vom Luxuslabel bis zum Bäcker an der Ecke, bekannt oder unbekannt, alle machen heute Taschen“, sagt er. Doch wie bei jedem Hype tritt irgendwann eine Ermüdung ein. „Und die ist derzeit zu beobachten“. Jede Saison der neue Look, die neue It-Bag , alle haben das Must-have in ihrer Kollektion und die Preise werden immer absurder. Einige Frauen hätten einfach keine Lust mehr mit auf das Laufband zu steigen. „Die große Aufregung um das Produkt verschwindet“, sagt er. Bleibt nur noch der komplette Verzicht? „Das ist ein Statement, kein Trend“, sagt Bree. Dafür erweist sich die Tasche schon seit viel zu vielen Jahren als viel zu schöner Teil eines Outfits.

August 2014 | Petra