Franziska Klün

Das ist eine ganz üble Spelunke

Mai 2010 | zitty: Als Berliner hat man das Diener Tattersall in Charlottenburg zu kennen. Rolf Honold, 67 Jahre, war 40 Jahre Besitzer dieser Institution- Zeit zurückzublicken

Herr Honold, 40 Jahre lang waren Sie Besitzer des „Diener Tattersall“, vor vier Jahren haben Sie das Restaurant an den Schauspieler Heinz Werner Krähkamp verkauft. Sie müssen über einen unglaublichen Fundusan Anekdoten verfügen. Wo fangen wir an?
Vor drei Jahren hatte ich einen Schlaganfall, seitdem habe ich Wortfindungsschwierigkeiten. Früher kannte ich jeden Namen zu den 500 signierten Bildern, die hier hängen. Heute fallen sie mir einfach nicht mehr ein. Aber die Anekdoten wurden ja alle schon aufgeschrieben.

Die Geschichten kann man doch immer wieder hören.
Seit 20 Jahren werde ich gelöchert, ich sollte mal ein Buch schreiben. Ich mache das nicht. Sonst manifestiere ich Geschichten, die jeder anders erzählt. Es gibt zum Beispiel einen Stammgast, den Schauspieler Volker Spengler, der behauptet, an der Theke stand ein Klavier. Weder bei meinem Vorgänger und Namensgeber des Ladens, dem berühmten Boxer Franz Diener, noch bei mir stand hier ein Klavier. Aber er ist felsenfest davon überzeugt!

Sie wollen ihm nicht das Gegenteil beweisen?
Für ihn ist die Geschichte stimmig. Warum soll ich da etwas erwidern? Außerdem ist es ein gutes Argument gegen das Schreiben – neben der Faulheit. Man macht sich auch viele Leute zum Feind, weil man sie in Geschichten vergisst.

Heute haben Sie aber schon Lust zu erzählen?
Ein bisschen plaudern kann man immer.

Für alle, die das Diener nicht kennen: Was ist das für ein Laden?
Es ist eine ganz üble Spelunke. Oder wie der Schauspieler Walter Schmidinger immer sagt, eine Kaschemme. Ich finde Spelunke schöner. Das hat etwas Zwielichtiges, da passiert etwas. Eine Kaschemme ist einfach ein Scheißladen.

Kommen Sie noch jeden Tag in die Spelunke?
Ich komme häufig spätnachts hinunter, wenn der Geruch des guten Bieres hinauf zu mir in den zweiten Stock zieht und ich stechenden Durst bekomme. Um die Zeit sind ja meist dieselben Leute da, die kenne ich alle.

Auf Ihrer Webseite steht, über die Leute, die heutzutage herkommen, wird nicht gesprochen, die stünden unter lokalem Datenschutz.
Datenschutz ist mein Lieblingswort. Aber klar rede ich über die – schlecht natürlich.

Wer kommt denn her?
Von Opernsängern bis zu Schmusesängern, Schlager- und Schnulzenfuzzis. Max Raabe zum Beispiel – ein zauberhafter Typ. Oder Rolf Eden – ein wahrer Gentleman. Und Luzia Braun, die Moderatorin von „aspekte“ – eine richtige Dame.

Besonders böse war das aber nun nicht von Ihnen.
Das Böse kommt zum Schluss. Wissen Sie, viele Gäste haben am nächsten Tag schwer zu arbeiten. Wer in der Früh ins Synchronstudio muss, der kann nicht bis nachts um vier trinken. Früher ging das.

Und woran liegt das?
Weiß ich nicht. Zum Beispiel Günther Ungeheuer war ein ganz berühmter Schauspieler und ein schwerster Trinker. Der ist morgens um sieben hier raus, rüber ins Hotel, hat sich gewaschen, ist in ein Taxi gestiegen und zum Drehen gefahren. Das war ein gefürchteter Choleriker. Einmal spielte er mit einem Kollegen, der nicht textsicher war. Nach zwei falschen Wörtern rastete Günther aus: „Eine Un-Ver-Schämt-Heit!“ schrie er, „dieser junge Mann bringt die gesamte Zunft der Trinker in Verruf!“ Der brauchte seinen Auftritt. Walter Buschhoff war auch so. Heute macht das kein Schauspieler mehr.

Wann kommen die meisten Leute?
Der stärkste Tag ist der Donnerstag. Ende der 70er ging man in Charlottenburg sonntags aus. Am Wochenende waren die Lokale voll mit einem Publikum, das man nicht antreffen wollte. Am Sonntag aber, wenn der normale Mensch keine Zeit hatte, ist man ausgegangen. Außerdem kam es auf den Spielplan der Freien Volksbühne und des Schillertheaters an. Wenn etwas Besonderes lief, kamen drei Monate lang die gleichen Leute – jeden Tag. Da wusste ich immer wie der Abend wird, schließlich gab es meist einen Platzhirsch.

Zum Beispiel?
Der berühmteste war O.E. Hasse, der große Schauspieler und Regisseur. Ein unglaublich geistreicher Mann, der toll reden konnte und gerne knobelte. Wenn der O.E. am Kurfürstendamm spielte, war der Tisch in der Ecke jeden Tag für ihn reserviert – ob er kam oder nicht. Und wenn er da war, haben nie zwei Leute gleichzeitig miteinander gesprochen. Das war tabu. Einer sprach, häufig er, und die anderen hörten zu.

Gab es auch Liebesgeschichten?
Harald Juhnke hat seine Frau hier kennen gelernt.

Sie waren anwesend?
Höchstwahrscheinlich. Ich war ja immer hier, sieben Tage die Woche, niemals krank. Vor mir konnte niemand ein Geheimnis haben! Und geraucht habe ich wie ein Teufel.

Tun Sie doch noch heute. Das ist Ihre siebte Zigarette.
Stimmt.

Kam Harald Juhnke oft?
Ich sage immer, er kam unregelmäßig regelmäßig – bis zum Schluss. Er hat sich nie verändert, war immer gut gelaunt, überall willkommen, eben ein guter Unterhalter.

Auch als er so krank war?
Er ist mit seiner Krankheit immer gut umgegangen und dadurch auch seine Umgebung.

Haben Sie viel Leid miterlebt?
Das hat sich meist außerhalb der Kneipe bei den Gästen zuhause abgespielt. Ich hab viele sterben sehen, aber hautnah habe ich mich damit nicht befasst.

Warum hängt kein Foto von Juhnke an der Wand?
Er sagte immer: „Ich fehle“, und ich antwortete, er solle gefälligst ein schönes Foto bringen. Das hat er nie gemacht. Es war unwichtig.

Ist es Ihnen nicht wichtig, wer an der Wand hängt?
Wenn alle großen Namen hängen würden, die hier waren, hätten wir anbauen müssen. Mit den meisten hatten Lilo Wirthwein, meine Partnerin, die wir letztes Jahr begraben haben, und ich irgendeine Form der Beziehung, man kannte sich. Maria Schell zum Beispiel. Die kam oft. Die war zauberhaft, immer hat sie Hof gehalten. Und Walter Buschhoff saß oft bei mir am Tisch – mit fünf, sechs anderen. Ob er diejenigen kannte oder nicht, auch da galt eine eiserne Regel: Wo er saß, bezahlte er.

Warum kommen die Leute so gerne her?
Das hat sich so ergeben. Zunächst lag es an dem Wirt der Schildkröte, die es noch heute in der Uhlandstraße gibt und die damals ein weiterer Künstlertreff war. Der setzte sich immer dazu. Das war den Leuten lästig. Also kamen Clemens Hasse, der Bruder vom O.E., und Wilfried und Jo Herbst von den Stachelschweinen her. Die waren populär, genau wie Franz Diener. Das zog andere an. Und als 1955 mit den Internationalen Filmfestspielen Hollywood-Schauspieler wie Gary Cooper den Laden aufsuchten, wurde er zum In-Lokal.

Das heißt, Sie saßen nie bei den Gästen?
Niemals. Ich saß immer an dem Tisch in der Ecke. Das habe ich mir gemerkt und 40 Jahre lang durchgehalten.

Was hat sich mit der Zeit verändert?
Nicht viel. Barbara Krähkamp, die Frau vom Heinz Werner, versucht alles so zu lassen, wie es ist. Die Mädels am Tresen sind immer noch die Schlampen, die Sallschlampen. Benannt, wie der Laden, nach dem „Tattersall des Westens“, der Reithalle und den Stallungen, in denen hier im 19. Jahrhundert auch Kaiser Wilhelm II. pausierte. Einer der ersten Stammgäste, noch vor Dieners Zeit, war die Schriftstellerin Hedwig Courths Maler, die hat hier reiten gelernt.

Eine Kellnerin stellt Rolf Honold ein Glas Wasser hin. „Damit dein Mund nicht so trocken wird, wenn du so viel quatschst.“ „Den Spruch habt ihr von mir, wa? Bring doch lieber zwei Bier, und wenn’s geht rasch“.

Die Schlampen sind immer besorgt und bringen mir komischerweise Wasser.

Die Biere kommen. „Ach zwei kleine – so war’s aber nicht bestellt.“

Gab es auch mal richtig Zoff?
Politisch haben wir uns oft gestritten. Hans Quest spielte 1949 den Porzellanerfinder Johann Friedrich Böttger – „Die blauen Schwerter“ hieß der Film –, den sah Stalin und war so begeistert, dass er Quest nach Moskau einlud. Es war Kalter Krieg – alle rieten ihm davon ab: „Dann bist du tot.“ Er fuhr nicht, aber bereute es wahnsinnig. Irgendwann haben wir uns mal gestritten, und er schrie: „Zu Dir komme ich nie wieder! Du bist ein Kommunist!“ So was Irres – der wollte doch zu Stalin, nicht ich.

Bekam nicht mal jemand eine Ohrfeige?
Oh ja – das ist eine Geschichte, die erzählt jeder anders: Volker Spengler zog immer über Premieren her, die er nicht gesehen hatte. Einmal nach einer Premiere des Theaters am Kurfürstendamm, in die O.E. Hasse involviert war, kam Volker Spengler und rief: „Das war ganz schläächt! Hab gehört, da war nix los. Woran lag’s denn?“ Schweigen am Tisch. „Ich glaube das lag an Ihnen!“ Da ist Hasse aufgestanden, hat ihm eine Watschen gegeben, woraufhin Spengler hinaus gerannt ist. Ich saß wie immer an meinem Platz mit Blick auf die offene Tür. Nach einer Stunde ist Spengler vorbeigelaufen, guckte rein und ich gab ihm ein Zeichen, dass Hasse noch da ist. Der sah das und rief: „Kommen Sie ruhig rein, Herr Spengler!“ Narren waren das. Die beiden, stockschwul, saßen dann wieder vereint an ihrem Tisch – kein Wort mehr über die Ohrfeige.

Haben Sie eine Lieblingsanekdote?
Oh ja, von einer ganz Großen, der Edith Schollwer. Anfang der 80er saß sie am Stammtisch mit vielen Leuten, als ein junger Schauspieler eintrat. Ungefähr 25 Jahre, groß, schlank, blond, ich glaube, er hieß Rüdiger. Er ging an ihr vorbei, ich weiß nicht, ob er sie begrüßte, wenn, dann sehr unauffällig. Als er die Mitte des oberen Raumes erreichte und alle ihn gesehen hatten, schrie sie mit ihrer prägnanten Stimme: „Rüdiger, merken Sie sich eines: Eine Dame fickt man nicht nur einmal!“ Schweigen im Raum und dann prusteten alle los. Der kam nicht mehr. Der war erledigt.

Eine Kellnerin kommt. „Das Wasser kann wieder weg, Rolf?“ „Es stört. Bring uns noch zwei Bierchen. Die waren ein bisschen klein!“

Auch von Oskar Huth erzähle ich gerne. Jeden Tag kam er zu Fuß aus Reinickendorf her, hat sich einen angesoffen und ist wieder nach Hause gelaufen. Der war der Fälscher Nummer eins, hat im Krieg Ausweise und Lebensmittelmarken gefälscht – und damit vielen das Leben gerettet. Ein Wahnsinnstyp. Huth war Klavierstimmer. Wenn er im Fernsehen einen Pianisten an einem Glasflügel sah, war ich froh, wenn er die Stühle stehen ließ, so wütend war er. Das gab’s für ihn nicht, einen Glasflügel.

Honold zündet sich die zehnte Zigarette an. Allerdings falsch herum. Ohne zu überlegen, bricht er den Filter ab und raucht ohne weiter.

Kannten Sie Franz Diener persönlich?
Nein. Mein Vater hat die Geschichte des Raumschiff Orion geschrieben und saß hier mit O.E. Hasse und knobelte. Als Diener starb und der Laden vakant war, fragte mich Lilo, ob wir das nicht zusammen machen wollen. Damals war ich 25 und sagte: Warum nicht? Also haben wir es für viel Geld gekauft. Ich hatte mich nie in einer Kneipe gesehen, ich bin gelernter Drogist. Aber das hat ja auch mit Drogen zu tun.

06.05.2010 | zitty
Foto: Soany Guigand