Die Giganten der Pedale
Februar 2014 | The Weekender: Jedes Jahr Anfang Oktober findet in der Toskana die L’Eroica statt. Dann versammeln sich dort Gourmets, Nerds und Nostalgiker, um der Geschichte des Radsports zu huldigen.
„This isn’t just a race, it’s the Woodstock of Vintage cycling“ steht auf der Homepage der L’Eroica und man könnte diesen Vergleich als durchaus überheblich interpretieren. Einmal im Jahr findet in der Toskana ein Radrennen statt, das nur solche Rennräder zulässt, die vor 1987 gebaut wurden. Ihre Rahmen müssen aus Stahl sein und allgemein sind moderne Helme oder neue Trikots dort nicht gern gesehen. Man könnte meinen, all das schreie förmlich nach Hipstertum, kurzen Schnurrbärten, neonfarbenen Baumwollkappen und solchen trendaffinen jungen Erwachsenen, die sich sonst ausschließlich auf bremsenlosen Retrorädern fortbewegen.
Reist man in das Epizentrum der potentiellen Hipsterversammlung nach Gaiole in Chianti, wo sich wie jedes Jahr am ersten Oktoberwochenende alle Laden-, Restaurant- und Hotelbetreiber eine goldene Nase verdienen, wird man sofort eines Besseren belehrt. Schnurrbärte findet man in diesem idyllischen 2.000-Seelendorf zwischen Florenz und Siena gelegen zwar viele, einige aber sind an den Rändern gezwirbelt – oder längst ergraut. Auch Rennradmützen sind überall zu sehen, sorgfältig ausgewählt und zur restlichen Kleidung passend. Doch auch Schiebermützen werden getragen, Anzüge aus feinstem Zwirn mit Sakko und Weste, gebügelte Hemden mit Smoking-Kragen, karierte Strümpfe und Knickerbocker. All das hat mit der viel kritisierten modischen Eintönigkeit der hippen jungen Großstädter wenig gemein. Hier trifft jung auf alt, Profi auf Anfänger, Nostalgiker auf Nerd. Was sie alle vereint: die Liebe zum Radsport.
Bereits am Samstag vor dem großen Rennen scheint Gaiole aus allen Nähten zu platzen. Obwohl das Wetter kaum mieser sein könnte, es schifft und donnert und schifft und donnert, flanieren die Menschen in grün-, gelb- und rotschimmernden Regencapes durch die historischen Gassen. Sie sprechen italienisch und englisch, deutsch und französisch, japanisch und niederländisch. Vermutlich träumen sie alle von der urtypischen Toskana-Atmosphäre, die man hier genießen könnte, würde es irgendwann zumindest für ein paar Minuten aufhören wie aus Eimern zu gießen.
Doch heute bleibt es beim Träumen und einige Schätze des Flohmarkts, der auf das morgige Rennen einstimmen soll, bleiben unentdeckt. Die Hartgesottenen begeben sich dennoch auf die Suche nach Raritäten, durch Pfützen stapfend und jeden Stand genau beäugend. Lenker und Rahmen gibt es hier, Klingeln und Lampen, Drähte, Trikots, Luftpumpen – natürlich inklusive Rostflecken und ganz viel Patina. Die hier ausliegenden Waren stammen aus den Jahren zwischen 1900 und 1980, Laien erschließen sich deren Werte und mitunter auch Funktionen nicht unbedingt auf Anhieb. Gen Abend leeren sich die Gassen, dafür füllen sich die Landstraßen in Richtung Autobahn. Die Wetterprognosen bleiben düster – da geben manche bereits auf, bevor es überhaupt losgegangen ist und treten mitsamt der mitgebrachten Räder den Heimweg an.
Mit dem Sonnenaufgang folgt dann das Wunder. Die dunklen Regenwolken sind weitergezogen, die Sonne strahlt als wäre nichts gewesen. Nach mehreren Tagen schwarzem Himmel, zeigt sich das Wetter plötzlich gnädig. Diejenigen, die von dieser Gnade am heutigen Tag am meisten profitieren werden, sind zum Zeitpunkt der großen Erleichterung schon lange unterwegs. Noch in der Dunkelheit sind sie aufgebrochen. Die L’Eroica ist schließlich nicht nur das stilvollste, sondern auch das demokratischste aller Radrennen. Jeder Teilnehmer kann zwischen vier verschiedenen Strecken wählen und sich, je nach Fitness und manchmal eben auch Wetterlage, für 205, 135, 75 oder 38 Kilometer Radweg entscheiden. Die unterschiedlichen Strecken haben auch unterschiedliche Starttermine. Des großen Andrangs wegen, aber auch, weil man so sichergehen will, dass der Großteil der Teilnehmer im Hellen nach Gaiole zurückkehrt. 205 Kilometer auf und ab, über teilweise gepflasterte, vor allem aber ungepflasterte Straßen – da vergehen die Stunden schnell.
Die Schotterstraßen waren es auch, die Giancarlo Brocci einst auf die Idee brachten, die L’Eroica zu gründen. 1995 organisierte er ein erstes kleines Rennen zu Ehren des großen italienischen Radfahrers Gino Bartali. Die Veranstaltung war ein Erfolg – und Brocci kam eine Idee: Zu seinem Ärgernis und dem seiner meisten Freunde, Bekannten und Nachbarn, hatte die italienische Regierung vor Jahren beschlossen, die Straßen der Toskana zunehmend zu asphaltieren. Für Brocci ein Desaster, denn mit dem Verschwinden der „Strade Bianchi“, der weißen Straßen also, würde auch der Region allmählich der Reiz genommen.
Gegen diese Entwicklung wollte Giancarlo Brocci ein Zeichen setzen. Also rief er 1997 ein Radrennen ins Leben, das alle Beteiligten in die Vergangenheit entführen sollte: Mit ausschließlich alten Rädern, alten Ausrüstungen und traditionellem Essen. Er taufte es L’Eroica, das Heldenhafte, und traf damit einen Nerv.
Seitdem hat sich Brocci’s Rennen zu einer Art Festival gemausert. Immer mehr Teilnehmer aus immer ferneren Ländern reisen Jahr für Jahr Anfang Oktober nach Gaiole und plötzlich scheint der Woodstock-Vergleich gar nicht mehr so überheblich. 2013 musste die L’Eroica erstmals im Losverfahren die Plätze vergeben. Über 5.000 wurden am Ende zugelassen, davon – so die Regel – sind 1.500 italienischer Herkunft. Bessere Chancen einen Platz zu ergattern haben über 60-Jährige und Frauen, ein weiteres Zeugnis des demokratischen Charakters der Veranstaltung.
„Die Aussicht, das Essen, der Stil“, sagt Robert aus Nottingham, der gerade „the small one“, also die 38-Kilometer-Route hinter sich gebracht hat, „all das schafft eine Stimmung, die es sonst so nicht mehr gibt“. Hier würde man einen Mythos am Leben erhalten – den der Giganten der Pedalen. Bei der L’Eroica gelten nicht die Schnellsten als die Helden, sondern die Ältesten, die Letzten und auch diejenigen, die das kreativste Outfit tragen oder auf dem ältesten Fahrrad unterwegs sind. „Der einzige Grund schnell zu fahren“, sagt Robert, „ist doch, um mehr Zeit an den Essensständen verbringen zu können“. Immer wieder passiert man auf den Strecken Orte zum Pausieren. Lokale Gastronomen haben hier Stände aufgebaut an denen man vergeblich nach Energy-Drinks und Power-Riegeln sucht. Stattdessen findet man Proscuitto Crudo und Pecorino, Weißbrot mit Olivenöl, italienische Gemüsesuppe und ganz viel Chianti-Wein.
„Wer nach Gaiole reist, dem geht es natürlich auch um Selbstdarstellung“, sagt Daud aus Pakistan. Zu grauer Schiebermütze und weißem Leinenhemd trägt der Mitte-50-Jährige braune Lederschuhe. Seine Radfahrhosen hält er mit roten Hosenträgern auf Hüfthöhe. Sein braunes Rad glänzt, als hätte er damit gerade keine 38 Kilometer Schotterpiste abgefahren, sondern als sei es frisch poliert. „Vor allem aber geht es darum, die Schnelligkeit aus dem Leben zu nehmen“. Und sowieso, ein Rennen sei das doch nicht wirklich – eher ein Ausflug! „Und für mich“, fügt er mit breitem Grinsen hinzu, „als wahrscheinlich erster Pakistani in Gaiole, geht es natürlich auch darum der Welt zu zeigen, dass es in Pakistan nicht nur Terroristen gibt, sondern auch Radliebhaber“.
Gegen Mittag füllt sich der Hauptplatz in Gaiole. Jazzmusik tönt aus den Boxen einer Bar. Die Sonne scheint und die Teilnehmer der kleineren Runden erreichen die Zielgerade. Ihre Gesichter sind glücklich und erleichtert. Ein niederländisches Vater-Sohn-Team radelt auf einem Tandem und in – so muss es sein – grob geschnitzten Holzschuhen. Zwei Damen aus Florenz sind in Seidenkleidern und auf High Heels unterwegs. Sie sagen: „Weibliche Schönheit ist auch auf das Fahrrad übertragbar!“ So reisen sie eben alle mit ganz unterschiedlichen Botschaften durch die toskanische Provinz.
Manche erreichen Gaiole mit blutigen Knien, viele mit geflickten Reifen, einige erst spät nachts. Fast scheint es, als würden die ältesten Teilnehmer den Moment der Einfahrt in die Zielgerade am meisten genießen. Ein Gefühl von Ruhm und Ehre, wenn die Zuschauer applaudieren. Einer der ältesten und auch berühmtesten L’Eroica-Teilnehmer ist Luciano Berruti, sein Rad trägt seit jeher die Nummer eins. Dieses Jahr ist seine Schulter blutig, „ein schwerer Sturz“, sagt er nicht ganz ohne Stolz nun trotzdem bereits am Ziel zu sein. Auch Radprofis von einst reisen nach Gaiole, wie zum Beispiel Erik Zabel. Mit Freunden ist er in Italien unterwegs, 75 Kilometer seien sie alle gefahren. „Haben sie gut durchgehalten“, sagt er und klopft seinem Compagnon auf die Schulter. „Auch wenn es eine recht schlammige Angelegenheit war“.
Für einige gilt die L’Eroica als „die Mutter aller Rennen“, denn auch wenn sie nicht das am längsten existierende Radrennen ist, waren die Strade Bianchi in der Toskana auch schon vor 100 Jahren unter begeisterten Radfahrern beliebt. Heute ist die L’Eroica zu einer Marke avanciert, deren Wert sich auch Giancarlo Brocci bewusst zu sein scheint. Er hat das Konzept nun nach Großbritannien und Japan verkauft, 2014 wird in beiden Ländern erstmals eine L’Eroica stattfinden. Auch Nachahmer gibt es, wie zum Beispiel die Veranstaltung L’Intrepida. Dort gilt: Ein Rennen in der Toskana im Oktober, das ausschließlich alte Rädern und Baumwolltrikots zulässt. Der Unterschied zur L’Eroica? Bislang zählt das Rennen nur wenige hundert Teilnehmer, 300 waren es 2013. Das Woodstock aber findet weiterhin in Gaiole statt.
Februar 2014 | The Weekender