Franziska Klün

Die Jeans als Panzer

Juni 2014 | Zeit Magazin Online: Die meisten Jeansmarken setzen auf Abgewetztheit und Cowboy-Mythos. G-Star hält sich damit nicht auf. Dort entwerfen Ingenieure Mode so präzise wie Maschinen.

Der Hauptsitz von G-Star ist weit entfernt von der Grachtenromantik Amsterdams. Im Südosten der Stadt steht der Gigant aus Sichtbeton und Glas, entworfen von Rem Koolhas’ Büro Office for Metropolitan Architecture (OMA). „Dies ist kein Gebäude, dies ist ein System“, sagt man bei G-Star über den neuen Firmensitz.

G-Star ist eines der größten Jeanshäuser weltweit. In knapp 7.000 Geschäften in 61 Ländern sind die Kollektionen erhältlich. Zum System G-Star gehörte von Anfang an Innovation. Sollte sein Label anders sein als die üblichen Jeansmarken, dachte Gründer Jos van Tilburg, dürfte er nie in die Vergangenheit blicken, immer nur in die Zukunft.

Derzeit konzentrieren sich sämtliche Jeansmarken auf die Wiederbelebung alter Ikonen. Bei Levi’s dreht sich alles um die 501, bei Wrangler feiert man das Comeback der 1989 lancierten Texas. G-Star interessiert das nicht. Hier heißt es: „Denim is not about nostalgia.“

Dieser Satz wird in zahlreichen Interviews und Vorträgen zitiert und im neuen Hauptsitz scheint es, als schallten diese fünf Worte aus jeder Ecke. Das 140 Meter lange Gebäude ist einem Flugzeughangar nachempfunden. Alles ist offen und einsehbar, es gibt kaum Wände und wenn, sind sie aus Glas.

In diesem Hangar ist die Kreativabteilung das Herzstück. Sie besitzt eine eigene Zwischenebene und ist von allen anderen Abteilungen aus zu sehen. Die Böden bestehen aus weißem Harz, die Treppen aus Beton, massive Stahlträger durchbohren sämtliche Etagen. Anfang dieses Jahres wurde das 40-Millionen-Euro-Gebäude eingeweiht und bezogen. Koolhas sagt über sein neues Werk: „Wir waren noch nie so vulgär.“

Vulgär, massiv, gewaltig. Bei G-Star spricht man lieber von raw, roh. So unbehandelt wie der Beton des Gebäudes sind auch die Jeans. Die rauen, ungewaschenen Materialien bilden die Grundlage jeder Kollektion. Daher lautet der korrekte Name der Marke heute G-Star Raw.

Tilburg gründete sein Unternehmen 1989, in einer Zeit, als niemand auf eine weitere Jeansmarke wartete. Levi’s, Pepe, Wrangler, Lee, Diesel – die Großen waren längst da. Ohne je Design studiert zu haben, glaubte Tilburg dennoch, es besser zu können. Er nannte seine Firma zunächst Gapstar, doch aus Angst vor einem möglichen Rechtsstreit mit dem Bekleidungskonzern Gap wurde aus Gapstar schließlich G-Star.

Patrick Kraaijeveld, einer der Geschäftsführer, erinnert sich an diese Gründungszeit: „Der Anfang war keineswegs ein Senkrechtstart.“ Vor 20 Jahren fing er bei G-Star an, als Verkäufer in einem der Läden. „Wie so viele hier habe ich mich ganz langsam nach oben gearbeitet.“

„Unser größtes Glück war, dass wir nie diesen einen großen Hype erlebt haben.“

Stück für Stück sei es aufwärts gegangen, sagt Kraaijeveld – für ihn und die Firma. „Unser größtes Glück war, dass wir nie diesen einen großen Hype erlebt haben.“ Das stelle eine Marke meist vor Herausforderungen. „Denn hat man endlich die nötigen Kapazitäten geschaffen und kann die Nachfrage bedienen, flaut diese auch schon ab. Ja, und dann wird’s kompliziert.“ Wer in der Modebranche nach oben will, erkannte Tilburg, darf nicht jeden Trend mitmachen, sondern muss seine eigene Sprache entwickeln. „Innovation war von Anfang an die Plattform“, sagt auch Kraaijeveld.

Was Innovation für Jeans bedeutet, musste man bei G-Star erst herausfinden. Eines sei aber klar gewesen: Das Material müsse mehr können als an seinen Ur-Träger zu erinnern. Was man der weit verbreiteten Cowboy- und Biker-Nostalgie entgegensetzen konnte, verstand Pierre Morisset an einem verregneten Tag 1995.

Morisset, heute Chef-Designer des Unternehmens, saß an diesem Nachmittag vor 19 Jahren in einem Taxi. Draußen goss es, an einer Ampel hielt neben ihm ein Motorradfahrer. Morisset musterte den Mann, betrachtete den Knick an dessen Knie und wie sich die Jeans durch langes Tragen perfekt dem Körper angepasst hatte. So eine ideale Passform müsste man bei einer neuen Jeans entwickeln können, dachte er.

Ein Jahr später lancierte G-Star das Modell Elwood. Mithilfe von Patches, Zwischennähten und anderen maßgeschneiderten Ansätzen war es Morisset gelungen, der Jeans eine dreidimensionale Passform zu verleihen. Es war die Geburtsstunde der konstruierten Jeans. Die Elwood war die Produktinnovation auf dem Denim-Markt und wurde zum Bestseller des Unternehmens. Bei G-Star dreht sich seitdem alles um Dreidimensionalität und die Silhouette des menschlichen Körpers.

„Die Elwood war nie ein Hype“, sagt Pieter Kool, „aber sie ermöglichte Wachstum“. Kool hat krauses Haar und trägt eine locker sitzende Jeans; er ist gelernter Industriedesigner und unter anderem für das Design der Geschäfte, Messestände und Modeschauen verantwortlich. Kool ist bekannt dafür, jeden zu verbessern, der G-Star als Modemarke bezeichnet. „Das sind wir wahrlich nicht.“

Sie definierten sich nicht als Modedesigner, sondern als Modeingenieure, -architekten oder -techniker. „Uns interessiert nicht, ob man gerade Schlaghosen trägt oder weiße Denim-Overalls, ebenso wenig wie uns der Cowboy als Inspiration dient. Viel spannender finden wir, warum der Cowboy sich für Jeans als Material entschieden hat“, sagt Kool.

Jeans sind ein Panzer.

Tatsächlich kommen viele Mitarbeiter im Kreativdepartment aus technischen Berufen und haben nie Modedesign studiert. Vor Kurzem wechselte ein IT-Mitarbeiter, der sich zuvor um die Wartung der Computer gekümmert hatte, in die Design-Abteilung. Auch Chef-Designer Morisset wollte ursprünglich Architekt werden; Kool hatte sich im Studium auf Bauingenieurswesen spezialisiert. „Es hilft, wenn Menschen aus anderen Perspektiven auf Mode blicken.“

„Jeans sind ein Panzer, sie sollen die Menschen schützen“, sagt Kool. Er und seine Kollegen seien dafür da, diesen Panzer tragbar zu machen. Den Stoff an sich untersuchen seine Mitarbeiter nicht, lieber überlegen sie, was sie von der Türkonstruktion eines Autos lernen und auf Jeans übertragen können. Oder was ihnen Stühle lehren. „Komfortabel zu sitzen ist auch ein technisches, dreidimensionales Problem“, sagt Kool. Die meisten Kleidungsstücke und Hosen könne man einfach flach auf den Boden legen. „Ein grundlegendes Missverständnis – der Körper ist ja auch nicht einfach nur flach.“

„Schauen Sie nur!“, ruft Kool und stellt einen Stuhl auf den Tisch: eine neue Interpretation des Klassikers „Standard“ von Jean Prouvé aus dem Jahr 1934. Konstruktionen wie diese inspirierten ihn, sagt Kool. Er deutet auf den Teil, wo Hinterbeine, Rücken- und Armlehne zusammentreffen. „Am meisten belastet wird der Stuhl an den hinteren Beinen. Dort also, wo er das Gewicht des Oberkörpers aufnehmen muss. Deswegen hat Prouvé die hinteren Beine als voluminöse Hohlkörper ausgebildet, an anderen Stellen hat er das Material reduziert.“

Wo braucht man mehr Material und wo weniger? Solche Fragen stellt man auch bei G-Star. Wo reißt eine Hose? Wo zwickt es am häufigsten? Das Label versucht, entsprechende Lösungen zu finden.

„Prouvé machte das, was er für richtig hielt“, sagt Kool. Innovativ rebellieren, das sei auch ihr Credo. „Selbstverständlich liegen wir mit unseren Ideen nicht immer richtig.“ Auch bei der Elwood habe man sich ein paar Saisons in Geduld üben müssen, erst dann setzte sich die Hose im Handel durch. Gerade in der Modebranche, wo nichts länger als sechs Monate dauert, ist das ungewöhnlich.

Juni 2014 | Zeit Magazin Online