Die Zukunft der Arbeit
FAZ Quarterly | Was wir in der Krise gelernt haben. Seit der Pandemie ist klar: Die Arbeitswelt wandelt sich schneller als gedacht. Brauchen wir dafür vielleicht andere Unternehmen, Büros und Vorgesetzte?
Diskussionen über die Zukunft der Arbeit gibt es schon lange. Bislang ging es meist um Roboter oder Künstliche Intelligenz; um Algorithmen, die uns wahlweise die Arbeit erleichtern oder wegnehmen; um viel Unsicherheit, Verwirrung, auch Angst. Wir hörten oft schwammige Interpretationen des vage klingenden Begriffs „New Work“. Sind wir bereits Teil dieser „neuen Arbeitswelt“, wenn wir Projektmanagement-Programme wie Slack oder Trello nutzen, einen Kicker im Eingangsbereich stehen haben oder die Viertagewoche erlauben?
Jetzt hat die Zukunft plötzlich begonnen, die Digitalisierung wird greifbar. Wir sitzen im Homeoffice vor unseren Bildschirmen, reden mit unseren Kollegen oder schalten uns in große Konferenzen ein, zu denen wir eigentlich reisen wollten. Schon jetzt ist klar: Der lange diskutierte Wandel ist viel schneller und umfassender möglich, als wir alle geglaubt haben. Frithjof Bergmann, der Sozialphilosoph, der den Begriff „New Work“ ursprünglich prägte, hatte insbesondere ein Ziel: den Menschen auf Wandel vorzubereiten, indem er ihn ermutigte, sich selbst und den ganz eigenen Interessen auf die Schliche zu kommen.
Der Gedanke dahinter: Nur wer weiß, was einen als Menschen im Ganzen auszeichnet, ist unabhängig von strukturellen Veränderungen. Der in den Vereinigten Staaten lebende gebürtige Deutsche ist heute 89 Jahre alt. Als Anfang der 1980er Jahre die erste große Automatisierungswelle beim amerikanischen Automobilkonzern General Motors zu Massenentlassungen zu führen drohte, hatte Bergmann eine Idee: Warum die Arbeit nicht unter den Arbeitnehmern aufteilen, statt allen zu kündigen? Und sie dann ermutigen, die freie Zeit dafür zu nutzen, eine Tätigkeit zu finden, die wirklich zu ihnen passt? Das Experiment wurde nur in Teilen umgesetzt, dennoch gelten die Mitarbeiter, die daraufhin nie in die Fabrik zurückkehrten – einer eröffnete etwa ein Yoga-Studio, eine andere entdeckte ihre Liebe zum Holz und wurde Tischlerin –, seither als so etwas wie die Pioniere von „New Work“.
Knapp 40 Jahre später ist Bergmanns Ansatz aktueller denn je. Auch wenn vieles, was sich in der jüngeren Vergangenheit „New Work“ nannte, nur noch wenig mit seiner ursprünglichen Philosophie zu tun hat, sondern die Beschäftigung nur ein bisschen reizvoller macht, wie das Arbeiten von zu Hause aus oder der Kicker im Eingangsbereich, ohne grundsätzliche Bedürfnisse wirklich zu berücksichtigen. Bricht nun mit der aktuellen Krise und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen eine neue Zeitrechnung an, die trotz aller Probleme auch die Chance bietet, eine wirklich neue, bessere Arbeitswelt zu ermöglichen?
Der erste Eindruck stimmt nicht optimistisch: Mit 2020 wird sich das Machtgefälle auf dem Arbeitsmarkt verschieben. Lange Zeit gab es in Deutschland einen sogenannten Arbeitnehmermarkt: Die Arbeitgeber hatten mehr Stellen zu vergeben, als ihnen zu besetzen gelang, das hatte für die Beschäftigten schöne Konsequenzen. So forderten die jüngeren Arbeitssuchenden, bekannt als Generation Y und Z, Dinge von ihren Chefs, über die sich die Älteren ausgiebig (vorrangig medial) ausließen und (unter ihresgleichen) wunderten. Monatelange Sabbaticals zum Beispiel. Oder eine 20-Stunden-Woche, die genug Raum für Hobbys und Familie ließ. Viele Junge fragten mit großer Selbstverständlichkeit nach möglichst viel individueller Flexibilität und möglichst wenig Kontrolle.
Sie taten dies, weil die Situation auf dem Arbeitsmarkt ihnen die Macht dafür gab. Und nicht weil es dergleichen Bedürfnisse früher nicht auch schon gegeben hätte. Nur wurden diese nie ausgesprochen. Das aus der Industrialisierung stammende strenge Normativ, im Berufsleben einen Großteil von dem auszublenden, was und wer und wie man ist, und sich den Strukturen eines von anderen definierten Jobregimes zu unterwerfen, wurde seit dessen Einführung im 19. Jahrhundert nie auf breiter Front wirklich in Frage gestellt.
Die starke Stellung der jungen Arbeitssuchen den in den vergangenen Jahren führte zu einer Art Selbstvermarktungs-Wettrennen unter Unternehmen, bekannt als „Employer Branding“. Plötzlich mussten sich Firmen nicht mehr nur möglichst attraktiv für neue und alte Kunden darstellen, sondern auch für neue und alte Mitarbeiter. Seitdem gehören Snackbars mit nährstoffreichen Power-Riegeln, exotischen Limonaden und Schalen voll glänzendem Obst zu jedem Unternehmen, das bei diesem Wettrennen mithalten will. Wer die Konzernzentrale von Microsoft Deutschland in München-Schwabing kennt, den deutschen Facebook-Sitz in Hamburg oder den SAP-Campus bei Potsdam, weiß: Die Paradebeispiele stammen meist aus dem IT-Bereich. Den umworbenen Fachkräften soll es an nichts fehlen. Da werden die Räumlichkeiten für die unterschiedlichsten Bedürfnisse ausgelegt, mit durchdesignten Kantinen, wo den Belegschaften täglich wechselnde Gourmet-Menüs serviert werden, elegante Lounge-Areas stehen bereit für den privaten oder beruflichen Austausch und Räumlichkeiten für die unterschiedlichsten Meeting-Konstellationen mit bester technologischer Ausstattung. Und danach locken das gemeinsame Yoga, das gemeinsame Fußballspiel, das monatliche Team-Dinner.
Jetzt droht eine schwere Rezession, ein deutlicher Anstieg von Insolvenzen und Arbeitslosenzahlen ist absehbar – das Machtgefälle ändert sich. Der Arbeitsmarkt wird in vielen Branchen wieder zum Arbeitgebermarkt. Werden damit auch die erzielten Fortschritte für jüngere Gehaltsempfänger zurückgeschraubt? „Natürlich könnte es schwieriger für Beschäftigte werden, ihre Bedürfnisse durchzusetzen“, sagt Max Neufeind. Der Arbeitspsychologe und Politikberater gilt als einer der wichtigen jungen Vordenker des Wandels der Arbeitswelt. „In den vergangenen Jahren haben die Personalverantwortlichen aber auch gelernt, dass es bei den Forderungen jüngerer Generationen ja eben nicht bloß um die Geschmacksrichtung eines Joghurts geht, der ihnen so besonders gut schmeckte, sondern um Praktiken, die für beide Seiten vorteilhaft sind und die, wie vielfach empirisch belegt worden ist, auf die Ziele der Organisation einzahlen.“ Forderungen, die kürzlich noch als Gabe von Unternehmen an Beschäftigte galten, wie zum Beispiel orts- und zeitflexibles Arbeiten oder eine weniger hierarchische Steuerung von Prozessen, würden jetzt Standard.
Gleichzeitig machten die vergangenen Monate deutlich, dass ein Ende der Männerwelten noch lange nicht in Sicht ist. Frauenquoten und möglichst diverse Teamstrukturen scheinen in ökonomisch härteren Zeiten schnell vergessen. Stattdessen diskutieren wir über die Abkehr innerfamiliärer Errungenschaften in puncto Gleichberechtigung, darüber, dass wir aufpassen müssen, im Zuge der Krise nicht in die Rollenmuster der 1950er Jahre zurückzufallen. Bekannte Medienstimmen wie Gruner+Jahr-Verlagschefin Julia Jäkel melden sich zu Wort, um anzuklagen, dass sie sich plötzlich in Telefon und Videokonferenzen irgendwelcher Expertengremien wiederfinden, die hauptsächlich männlich und weiß besetzt sind. Dachten wir nicht kürzlich noch, wir wären schon weiter? Und dass es ein größeres Bewusstsein dafür gäbe, dass Diversität und Frauenquoten nicht nur gut aussehen, sondern zu mehr Leistungsfähigkeit eines Unternehmens führen können?
An anderer Stelle war der zukunftsweisende Fortschritt dagegen überwältigend: Ein gigantischer Digitalisierungsschub hat uns durch diese Krise getragen. Kommunikations- und Organisationssoftware wie Zoom und Microsoft Teams und Slack und Google Meet machten möglich, was wir lange für unmöglich hielten: Der Arbeitsalltag lief trotz Krise weiter, auch ohne gemeinsames Büro. Zeitungen erschienen nach wie vor, Gesetze wurden entworfen und verabschiedet, Menschen juristisch beraten und vertreten. Jeder hatte seinen persönlichen kleinen oder großen Staun-Moment, was plötzlich digital so alles möglich war. Dabei ging es selten um Technologien an sich (Videokonferenzen sind seit Mitte der 1990er möglich), sondern darum, wie diese plötzlich in unseren Alltag übersetzt wurden.
„Die Einpassung von Technologien in konkrete Arbeitszusammenhänge stellt immer eine große kulturelle, organisationale und soziale Herausforderung dar“, sagt Neufeind. „Erst wenn wir sehen, was tatsächlich möglich ist, beginnen wir, das Alte radikal zu hinterfragen.“
Was folgt daraus? Auch wenn die steilen Lernkurven, die diese Krise für viele mit sich bringt, etwas Gutes sind, werden zugleich Unterschiede mehr als deutlich. Wer im Team ist eigentlich behände mit den Technologien, wer kann unter diesen Umständen produktiv sein? Und wer nicht? Und wie geht man mit diesen Erkenntnissen um? Können diese Ungleichheiten, die sich herausstellen, abgefedert werden, indem man diejenigen unterstützt und weiterbildet, die aufgrund ihrer mangelhaften Digital-Skills derzeit abgehängt – oder tun wir nichts und machen sie damit auch langfristig zu Abgehängten?
Plötzlich liegen also all die Unternehmen klar im Vorteil, die schon länger mit Wandel konfrontiert sind. Siemens zum Beispiel, dessen Zukunft nicht in der stark kriselnden und einst das Kerngeschäft definierenden Kraftwerksparte liegen soll, sondern in der Digitaltechnik. Bereits Anfang vergangenen Jahres verkündete Ex-Personalchefin Janina Kugel mit einem mit 100 Millionen Euro ausgestatten Zukunftsfonds eine neue Lernkultur etablieren zu wollen. Es sei wichtiger denn je, so Kugel damals, dass sich jeder kontinuierlich weiterbilde, bereit sei, Neues zu lernen und die eigene berufliche Entwicklung aktiv mitgestalte. Die Mitarbeiter wurden angehalten, selbst mitzubestimmen, wie und wo das Geld investiert wird. Oder die Deutsche Bahn, die sich ebenso in einem riesigen Transformationsprozess befindet. Der Konzern will in den kommenden Jahren das hiesige Eisenbahnnetz komplett digitalisieren, gleichzeitig massiv Verkehr auf die Schiene verlagern und die Platzkapazitäten verdoppeln. In dem Zuge sollen 100.000 neue Stellen entstehen und Frauen viel mehr Förderung im Unternehmen erhalten. Spezielle Mentoring-Programme, ein umfangreiches für jeden zugängliches Seminarangebot und eine Akademie zur Qualifizierung von Führungskräften motivieren zur steten Weiterbildung – und sind in Zeiten wie diesen inhaltlich leicht neu auszurichten.
Die Beispiele zeigen: Der globale Digitalisierungsprozess hat im Grunde gerade erst begonnen. Es steht uns kein Kampf zwischen Menschen und Maschinen bevor, wie oft angenommen, sondern zwischen den Menschen, die keine Maschinen besitzen und denjenigen, die sie besonders gut bedienen können. Unternehmen können attraktive Angebote schaffen, die zugehörigen Bedienungsanleitungen lesen zu lernen. Bei den Angeboten zuschlagen, muss aber jeder schon selbst.
Und es geht noch etwas anderes einher mit den steilen Lernkurven unseres digitalen Verständnisses in diesen Wochen. Während wir fröhlich über Zoom unsere Projekte besprechen, über Slack unseren Alltag miteinander organisieren und Google Drive als virtuelle Ablage nutzen, schiebt sich eine andere Gewissheit in dieses harmonische neue Gefüge: Wir wissen, dass wir mehr wissen sollten. Nicht nur darüber, was technologisch noch alles möglich ist, sondern auch darüber, von wem wir uns hier eigentlich wie abhängig machen. Spätestens seit der Videodienst-Anbieter Zoom für eine Reihe an Negativ-Schlagzeilen sorgte, weil er unter anderem Nutzerdaten an Facebook weiterreichte und es Hackern ein Leichtes war, sich in geschlossene Konferenzen einzuschalten, sind wir sensibilisiert: Die Grundarchitektur dieser in der Regel aus dem Silicon Valley stammenden Programme entspricht oft nicht unseren europäischen Werten.
Nun ist Datenschutz-Extremismus aktuell sicherlich nicht das Gebot der Stunde, sondern schnelles Handeln. Doch je wichtiger die digitalen Tools auch langfristig für uns werden, desto wichtiger wird auch die detaillierte Auseinandersetzung für jeden von uns. Was brauche ich, welche Lösungen gibt es dafür und welche Risiken nehme ich dabei in Kauf?
Natürlich hätten die großen Hausaufgaben, indem sich jeder und jedes Unternehmen sein eigenes digitales Infrastrukturpaket definiert, längst erledigt sein können. Doch waren es nicht selten die Führungskräfte selbst, die sich diesen Hausaufgaben gar nicht erst annehmen wollten, weil sie damit auch ihre eigenen Unsicherheiten im Umgang mit Technologien offenbart hätten. Nun aber lassen sich diese mit einem Mal nicht länger verbergen. Und damit rückt unweigerlich eine der ganz großen Fragen auf den Radar, über die die Arbeitswelt schon lange diskutiert: Wie zukunftsfähig sind die klassischen hierarchischen Unternehmensstrukturen eigentlich noch?
In einer immer komplexeren Welt kann die eine heroische Führungsfigur nicht mehr alles wissen, alle führen, alle retten. Deshalb fordern Mitarbeiter schon seit Jahren mehr Mit- und Selbstbestimmung. Und nun, plötzlich, ist das preußische Hierarchie-Modell, das wir irgendwie aus dem 19. ins 21. Jahrhundert geschleppt haben, tatsächlich nicht mehr funktionsfähig. In Zeiten von Homeoffice muss sich jeder selbst strukturieren, führen, organisieren. Heißt das, Kontrollverlust wird zur neuen Führungs-Prämisse? Wie muss der Chef der Zukunft gestrickt sein? Und was passiert mit den Mitarbeitern, die klare äußere Strukturen brauchen oder über diese Meta-Arbeitskompetenzen noch nicht unbedingt verfügen? Oder ist die Holokratie, also das gleichberechtigte Führen aller, tatsächlich die richtige Alternative zur klassischen Hierarchie? Wie schafft man Orientierung, wenn keiner mehr Orientierung gibt?
Anruf bei Joana Breidenbach. Die Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Mitgründerin der Spendenplattform Betterplace.org hat gerade unter dem Titel “New Work Needs Inner Work” ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation veröffentlicht. Schon vor sechs Jahren trat sie bei Betterplace als klassische Chefin ab und ersetzte das Hierarchiegebilde durch eine, wie sie es beschreibt, “fluide, kompetenzbasierte Struktur”. Seitdem gilt sie als beliebte Stimme aus der Praxis, wenn es um Fragen zur “Neuen Arbeit” und den Abbau von Hierarchien geht, denn seitdem übernehmen unterschiedliche Menschen im Unternehmen je nach Aufgabenstellung die Verantwortung, andere arbeiten ihnen zu. So gibt es innerhalb der Teams zwar noch hierarchische Beziehungen, doch lösen sich diese mit den Projekten wieder auf. “Das Hauptmerkmal von Digitalisierung ist ja, dass die Welt dezentral und fluide wird. Deshalb stehen viele Unternehmen ja auch schon länger vor einem radikalen Wandel, vor einer Neu-Definition ihrer Führungs- und Organisationsmodelle, weil sie auf die Komplexität und Agilität im Außen reagieren müssen. Da sind solche flexiblen Arbeitsformen eben sehr interessant. Natürlich wird die aktuelle Krise diesen Prozess beschleunigen”, sagt sie. Gerade würden viele erkennen, was auch sie einst zum Handeln motivierte: Dass man im Unternehmen oft weniger als Schwarmgebilde organisiert ist als man glaubt. Als sie ihre Teammitglieder vor ein paar Jahren dazu motivierte eine Art TED Talk darüber zu halten, was sie denken, was Betterplace eigentlich sei, musste sie sich eingestehen: “Die Kluft zwischen dem Wissen im Team und mir war so immens, dass etwas passieren musste. Und diese Erfahrung machen gerade viele”.
Die Frage, was dann passieren muss, ist sicherlich nicht allgemein zu beantworten. Auf die Frage, was dann passieren muss, gibt es keine allgemeingültigen Antworten. So sieht man es selbst bei innovationsfreudigen Unternehmen wie SAP. Auch bei Deutschlands größtem Softwarehersteller gelten Führungsstil-Fragen als intensiver, fortlaufender Prozess, der sich nicht auf andere Unternehmen übertragen lässt. Dort wurde beispielsweise jüngst die Initiative “Unlearning Hierarchy” ins Leben gerufen, bei der sich ein wachsendes Netzwerk aus über 1.000 Mitarbeitern und Führungskräften mit den Fragen auseinandersetzt, ob sie sich klassische Hierarchien abgewöhnen sollten – und ob sie das überhaupt können. Ein Prozess, der laut Eigenaussage, mit vielen Aha-Erlebnissen, Frustrationen und Glücksmomenten einhergeht.
Wenn ein Unternehmen plötzlich dazu gezwungen ist, sich anders zu organisieren, ist Flexibilität gefragt und die wahre Funktion von Führung wird offenbar. Statt Kontrolle und Befehlsgebung, braucht es Coaching und Orientierung. Joana Breidenbachs These: Brechen äußere Sicherheiten und Strukturen weg, müssen Mitarbeiter intensiv dabei begleitet werden, innere Sicherheiten und Strukturen aufzubauen. Woher jemand aber seine Sicherheiten zieht, sei bei jedem Menschen anders.
Mitarbeitern Orientierung geben, nicht nur in Krisen, sondern langfristig, ihre Potentiale aufzeigen, das gelingt eben nur durch viel Kommunikation und Miteinbeziehen in Visions- und Wertefindungsprozesse. Was Führung heute braucht, das verdeutlicht diese Krise, macht sich nicht nebenbei. Sollten wir in Zukunft also mehr darauf achten, dass Menschen in Führungspositionen gelangen, die auch wirklich ein Interesse daran haben, andere Menschen zu coachen, statt nur den nächsten Karriereschritt im Blick zu haben? Brauchen wir vielleicht gar eine Trennung von fachlichen Karrieren und Führungskarrieren und müssten beide Karrieren dann nicht gleich viel wert sein und Ansehen genießen?
Nun gibt es bereits erste Studien, die sagen: Homeoffice bitte auch nach der Krise. Selbst die Politik hat sich mit dieser Forderung schon zu Wort gemeldet. Das virtuelle Arbeiten wird in Zukunft schlichtweg dazugehören. Doch es zeigt sich gerade auch: Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen den Austausch. Und den gemeinsamen Ort. Das Büro wird daher einen neuen Stellenwert erhalten: als physischer und als virtueller Ort. Für das physische Büro wird die Krise Veränderungen bedeuten. Abgesehen davon, dass architektonische Lösungen wie das Shared Desk Prinzip oder enge Großraumbüros noch mal neu diskutiert werden müssen, vielleicht gar jedes Unternehmen eine Art Hygiene-Officer im Team und am Eingang einen Detektor für den Gesundheitscheck stehen hat, werden die Gemeinschaft fördernden Räume noch mehr Aufmerksamkeit und Fläche erhalten. Wir alle lernen gerade, wie wertvoll physische Zusammenkünfte sind, wo wir Wissen austauschen können und Neues entstehen darf. Wenn alle von sonstwo arbeiten können, braucht das physische Büro eine eigene Attraktivität, eine Art Serviceangebot. Wie beim Lieblingsitaliener, der uns herzlich willkommen heißt. Ein Blick nach Südkorea – oder auch Herzogenaurach verrät, wie solche Angebote aussehen können. Im von David Chipperfield in Form eines Kubus entworfenen Headquarter des Kosmetikkonzerns Amore Pacific in Seoul treffen Mitarbeiter mit Besuchern in einem riesigen Atrium aufeinander, denn dort finden sich auch Museum, Bibliothek, Teehaus und Geschäfte. Spontane Begegnungen sollen hier zu inspirierendem Austausch führen. Und in drei großen Öffnungen der Fassade wachsen Bäume und Sträucher, die geschützte Nischen und Schatten spenden und ähnlich einer Parkanlage zum Verweilen einladen. Oder der jüngste Gebäude-Neuzuwachs auf dem Adidas-Campus in Herzogenaurach. Die so genannte Adidas-Arena mutet an wie ein Stadion, soll aber vor allem die Kultur des Unternehmens verkörpern: Dynamik, flache Hierarchien, eine offene, kreative Atmosphäre. Entworfen wurde der hochmoderne Komplex von Behnisch Architekten, die sich auch schon vor fast 50 Jahren für das Münchner Olympiastadion verantwortlich zeichneten. Drinnen motiviert ein beeindruckender Treppenentwurf zum Laufen statt Aufzugfahren, teils verglaste Container bieten Raum für Rückzug ohne sich abschirmen zu müssen, alles ist offen, durchlässig, großzügig.
Für das virtuelle Büro werden sich Unternehmen in Zukunft so genannte “Digitale Zwillinge” zulegen: Die bereits erwähnten Programme wie Slack, Microsoft Teams und Co. sind erst der Anfang von dem, was technologisch alles möglich ist. Was passt zu uns als Firma, was brauchen wir und wie können wir unsere digitalen Räume gestalten, damit in Videokonferenzen mit unseren Geschäftspartnern unsere Werte transportiert werden und nicht nur die vertrocknete Zimmerpflanze im Hintergrund zu sehen ist? Gleichzeitig werden wir uns Gedanken machen müssen zu unseren Verhaltensweisen und -regeln im Virtuellen. In der analogen Geschäftswelt haben wir diese über viele Jahre gelernt. Doch in der virtuellen Welt sind wir alle blutige Anfänger. Können wir hier von den Gamern lernen? Bislang sind sie noch die einzigen, die in digitalen Räumen wirkliche Referenzen gesammelt haben, weil sie dort seit Jahren mit ihren Avataren spielen.
Diskutiert man mit Raphael Gielgen über diese Fragen am Telefon, muss er zu Beginn des Gesprächs zunächst einmal seufzen. Als “Future of Work Trendscout” für den Design-Möbelhersteller Vitra reist er normalerweise ständig um die Welt und besucht an die 100 Büros und Unternehmen im Jahr. Kaum jemand weiß mehr über den Arbeitsplatz der Zukunft als Gielgen. Gerade ist sein neues heimisches Webcast Studio fertig geworden, sozusagen die ausgefeiltere Version eines Home Office. Von hier aus ist er nun mit gutem Sound, gutem Licht, guter Kamera im Austausch mit seinem globalen Netzwerk und produziert neue Videoformate. Wer sich also nur per Telefon zu ihm schaltet wie wir heute, verpasst etwas.
“Wir werden uns das Beste aus beiden Welten nehmen. Von Holodecks bis Virtual Reality, von kollaborativen Designplattformen bis zu virtuellen Projekträumen. Es gibt aktuell zahlreiche Startups, die nichts anderes tun als ein riesiges Ökosystem für virtuelle Arbeit zu schaffen. Darunter Software für die Analyse der eigenen Produktivität, der Teamarbeit, für große wie kleine Konferenzen, und so weiter. Wir werden aktuell erstmals dazu verdonnert, uns mit diesen ganzen Möglichkeiten zu beschäftigen”, sagt Gielgen. Die Frage, für welche Arbeit gehe ich ins Büro, für welche Arbeit bleibe ich daheim, werden sich in Zukunft die meisten jede Woche, wenn nicht gar jeden Tag neu stellen. “Es wird eine neue Erwartungshaltung an die Büroräumlichkeiten entstehen, dort will man das Team und die Energie des Unternehmens spüren, durch die spontane Begegnung mit Kollegen etwas dazu lernen.”
Und so werden die Architekten der physischen Unternehmensräume nicht nur mit denen zusammen arbeiten müssen, die die Unternehmenskultur kennen, prägen und verändern, sondern auch mit denen, die die virtuellen Räume kreieren – und andersherum. Nichts wird mehr isoliert voneinander zu betrachten sein, alles wird ein großes Ganzes. Der erste Schritt des Wandels geschieht gerade im Schnelldurchlauf. Der zweite Schritt bringt große Hausaufgaben mit sich. Das Gute ist, wir können jederzeit damit anfangen.