Ferien vom Ich
Oktober 2008 | zitty: Wo sind bloß die DJs, Partymacher und alle sonstigen Koksnasen jetzt im Herbst? Die sind in Thailand und lassen sich engiften. „Detox“ nennt sich ein neues Wellnessangebot. Es ist wahnsinnig teuer. Ob es auch was bringt?
Jons Tag beginnt um 5.30 Uhr. Dann klopft es an der Tür und die hübsche Nyam-Leyla reicht einen heißen Limettensaft auf silbernem Tablett. Was anschließend folgt, ist ein straffes Tagesprogramm. Lymphdrainage, Akupunktur gegen Herz-Kreislauf-Störungen, Darmspülung, Kohlenhydrat-Therapie, Chi-Nei-Tsang-Unterleibsmassage, Yoga, Infrarot-Sauna und eine Sitzung mit einer spirituellen Heilungspraktikerin. Mittags liegen ernährungsergänzende Präparate neben der Mahlzeit. Und wenn Jon sich abends vollkommen erschöpft mit einem Zellenentschlackungsshake auf seine Holzliege legt, in ein nach Jasmin duftendes Handtuch eingewickelt, und auf die Bucht blickt, ist das der erste ruhige Moment des Tages.
Jon ist bereits das zweite Jahr in Folge im Kamalaya-Wellness-Center auf Koh Samui. Während andere Thailand mit dem Rucksack erkunden, geht er auf Entgiftungskur: 14 Tage für 5.700 Euro – exklusive Flug. „Detox“ heißt das Programm, abgeleitet von dem englischen Wort„Detoxication“, Entgiftung. Die Behandlung sei individuell auf die Bedürfnisse des Gastes abgestimmt, verspricht die Kamalaya-Homepage (www.kamalaya.com). „Gesundheit auf Knopfdruck“ wäre auch eine passende Bezeichnung.
„Get back in touch with yourself“, ist Jons Reisecredo. „Mein Alltag ist unglaublich stressig, da schaffe ich es nur selten, mir Zeit für mich zu nehmen.“ Für den 31-jährigen DJ und Produzenten ist der festivalreiche Sommer die exzessivste Jahreszeit. Der Herbst sei für ihn perfekt, um dem Körper etwas Gutes zu tun, meint er. Letztes Jahr stand er kurz vor dem Burnout. Eine chinesische Professorin der Universität Peking hatte ihm das diagnostiziert und verschiedene Akupunkturen verschrieben. „Das ist dann nach einer solch anstrengenden Zeit schon ein ganz besonderes Gefühl, den ganzen Tag damit beschäftigt zu sein, sich um sich selbst zu kümmern“, sagt Jon. „Im Laufe der Zeit setzt sich ja viel Schädliches in den Zellen ab. Hier wird man einfach komplett durchgereinigt.“ Nach dem Urlaub sei er wieder voller Energie gewesen und habe sich wie neugeboren gefühlt. Er versuche jetzt jährlich herzukommen.
Aber kann das sein? 350 Tage im Jahr Raubbau am Körper betreiben, anschließend 14 Tage Lymphdrainage und Unterleibsmassage und schon läuft die Maschine wie neu?
Torsten Binscheck vom Institut für Toxikologie Berlin hält Detox-Erholungsprogramme für Unfug: „Diese Angebote gleichen einer Mischung aus Saunaclub und Krankengymnastik, ein Kururlaub für drogenbelastete Yuppies, die sich die Schadstoffe in ihrem Körper gerne wegmassieren lassen würden. Mit ausreichend Schlaf und einer umfassenden Ernährung erzielt man denselben Effekt.“ Dabei lobt Binscheck den Ansatz derartiger Reisen: „Heute führen besonders in Großstädten wie Berlin viele Menschen einen eher ungesunden Lebensstil. Da ist es natürlich empfehlenswert dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu regenerieren und von eingenommen Substanzen Abstand zu nehmen.“ Bloß die Auffassung, der Körper funktioniere wie ein Ofen aus dem 19. Jahrhundert, der mit der Zeit einrußt und den man ab und an reinigen müsse, sei Blödsinn: „Das macht der schon von alleine, wenn man ihn lässt.“ Dennoch liegen Hotels wie das Kamalaya voll im Trend. Seit 1975 das erste Wellness Resource Center in Kalifornien gegründet wurde, ist in der westlichen Welt die Bereitschaft stetig gestiegen, in die eigene Gesundheit zu investieren, ob per Wellness-Wochenende, Gesundheitsurlaub im Kloster oder der Mitgliedschaft im Fitness-Club – für jeden Lebensstil ist etwas dabei.
Laut dem deutschen Wellnessverband wächst der Markt jährlich um ungefähr sechs Prozent und erwirtschaftet mittlerweile 73 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Das Segment Detox ist dabei noch verschwindend klein, aber Jon sowie Dr. Blinscheck sind zumindest darin gleicher Meinung, dass sich das bald ändert: „Dadurch, dass bei Detoxreisen auch indische, chinesische und europäische Medizin angewandt wird, sind sie im Grunde die Optimierung von Wellnessreisen“, findet Jon. Während Wellness noch als „Kur light“ zu betrachten war, ist Detox eben die harte Version – und immer mehr junge Menschen mit aufreibendem Lebensstil finden das attraktiv.
Dies bestätigt auch Andrea Csics vom Österreichischen Hotel und Gesundheitszentrum Lanserhof in Lans bei Innsbruck: „Die Zielgruppe ist auch bei uns sehr viel jünger als früher. Heutzutage denken Wirtschaftsleute und Unternehmer eben schon früher an Vorsorge und optimale Regeneration.“ Als „Wegbereiter für die Medizin der Zukunft“ bietet der Lanserhof seinen Gästen seit 25 Jahren Entgiftungs-, Entschlackungs- und Entsäuerungsprogramme an – und seit einiger Zeit auch Detox-Aufenthalte. Was einst als Kururlaub für Menschen fortgeschrittenen Alters einen äußerst langweiligen Ruf hatte, hat sich mit dem richtigen Marketing zum Non-Plus-Ultra-Urlaubsangebot gewandelt, so dass auch die ursprünglich der Oma verschriebene Lymphdrainage gegen Gewebewassereinlagerungen als neues Muss des perfekten Erholungsprogramms gilt. „Da wird einem mal wieder alter Wein in neue Schläuche geschenkt“, sagt Torsten Binscheck. „Diese Reisen sind Halsabschneidereien. Um Giftstoffe tatsächlich aus dem Körper zu spülen, müsste man diesen an neue Organe anschließen“, sagt Binscheck. Das passiert freilich bislang nur auf der Intensivstation – aber vielleicht ist es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wellness-Industrie auch diese neue Geschäftsidee erschließt.
Oktober 2008 | zitty