Ganz schön genordet
Januar 2013 | Tagesspiegel am Sonntag: Die Liebe der Deutschen zu Möbeln aus Skandinavien begann nicht erst mit Ikea. Sie reicht nun schon 100 Jahre zurück. Versuch einer Erklärung.
Sie sind alle weltberühmt: der Paimio-Stuhl aus gebogenem Birkenholz, entworfen vom finnischen Designer Alvar Aalto, der eiförmige Sessel von Arne Jacobsen oder die dreischirmige PH-Leuchte von Poul Hennigsen. All diese Einrichtungsgegenstände stehen für eine Region und eine Marke: Skandinavien. Eine Marke, die besonders in Deutschland anhaltend erfolgreich ist. Nirgendwo sonst finden die Wohnvorstellungen aus dem hohen Norden einen solchen Anklang – allein weil die klimatischen Bedingungen in Kopenhagen und Hamburg gar nicht so unterschiedlich sind, zwischen Rom und Berlin aber einige Temperaturschwankungen liegen.
Weiße Wände, Holzfußböden, große Fensterscheiben, mit einem Ausblick auf Waldesränder und Seenlandschaften.
„Man betritt einen Wohnraum“, schreiben Thomas und Jon Steinfeld in ihrem Buch „Ein Haus im Norden“, „und auf den ersten Blick weiß man, in welcher Weltgegend man sich befindet.“ Es sind die wenigen, einfach geformten und funktionalen Möbelstücke, die es verraten. Es ist die Helligkeit des Raumes, der Mut zur Leere. Keine Stilrichtung ist einen solchen Siegeszug angetreten wie der nordische Purismus.
Thomas Steinfeld, 58 Jahre, Feuilletonchef der „Süddeutschen Zeitung“, Skandinavienexperte, neuerdings auch Schwedenkrimischreiber, und seinen Sohn Jon, 32 Jahre, Architekt, fasziniert die Designkultur des Nordens. Bereits 2008 haben sie den mittlerweile vergriffenen Architekturführer „Skandinavische Architektur“ herausgebracht. Ihr neues Buch setzt da an, wo das andere aufhört: nach dem Bauen, beim Einzug.
„So wie das Gütesiegel Made in Germany früher für hohe Qualität und gute Herstellung stand, ist Made in Scandinavia heute ein Schlagwort für Naturverbundenheit, Schönheit und Schlichtheit“, sagt Jon Steinfeld. Ob in der Architektur, der Mode, der Musik oder im Design, Skandinavien ist ein Verkaufsschlager – und die treuesten Fans kommen aus Deutschland.
Warum können der schwedische Textilgigant Hennes & Mauritz oder das ebenfalls aus Schweden stammende Möbelhaus Ikea ständig ihre Umsätze steigern? Das Einrichtungshaus verbuchte 2011 einen Zuwachs von fünf Prozent, auf 3,65 Milliarden Euro. Was gefällt den Menschen hierzulande so am skandinavischen Purismus, dass sie nicht nur Billy-Regale in Kaufhäusern, sondern auch finnische Originalmöbel aus den 40er Jahren und zeitgenössische schwedische Keramik in Spezialgeschäften nachfragen?
„Die Liebe der Deutschen zum Norden hat eine lange Geschichte“, sagt Thomas Steinfeld. „Und sie erscheint in zeitlichen Wellen.“ Zum ersten Mal erwachte sie Ende des 19. Jahrhunderts. Die Pädagogin Ellen Key forderte „Schönheit für alle“, und seine Aquarelle machten den Maler Carl Larsson machten zum Vorbild für lebensnahes Design. Larsson verkaufte in Deutschland sehr viel mehr Ausgaben seines berühmten Buchs „Ein Haus in der Sonne“ als in Schweden verkauft. „Der Norden gehörte damals zu einem gesellschaftlichen Großversuch, sich vom Ballast der Konventionen und vom Plunder des schweren Hausrats zu befreien“, sagt Thomas Steinfeld. „Und es war von vornherein etwas Esoterisches dabei: der Wunsch nach Reinheit, nach Seele.“
In den späten 50er Jahren erwachte die Faszination der Deutschen für Skandinavien erneut. Die Stilrichtung „Danish Modern“ avancierte mit Designern wie Arne Jacobsen oder Verner Panton zum Leitbild der westlichen Lebensart. Die dritte Welle erreichte Deutschland in den 90er Jahren, eine Vermischung von einfachen Gestaltungsformen und relativ günstigem Preisniveau – und ist seitdem nicht mehr abgeflaut. Einrichtungsketten wie BoConcept und Bolia gehören zum deutschen Stadtbild wie Thalia-Buchläden.
Die Idee des demokratischen Wohnens, der Schönheit für jeden, wie sie die englische Arts-and-Crafts-Bewegung und in Deutschland das Bauhaus verbreiten wollte, setzte sich allein in Skandinavien auf Anhieb in der breiten Bevölkerung durch. In den anderen Ländern blieb es vorläufig bei einem Reformversuch der Intellektuellen. „Man muss sich die Popularität des Nordens als eine Kombination von Esoterik und Pragmatismus vorstellen“, sagt Thomas Steinfeld. „Wenn alle in den gleichen Möbeln leben, hat das etwas Entlastendes, man muss sich selbst nicht mehr so stark symbolisieren.“
Ingvar Kamprad hat das erkannt. Der heute 86-Jährige war der Erste, der mit dieser Idee auf den internationalen Markt hinaustrat. Er eröffnete 1974 das erste Ikea-Möbelhaus in Deutschland, 45 folgten bis heute. Von Anfang an benannte Kamprad seine Möbel nach schwedischen Orten, Flüssen oder Inseln und verlieh ihnen damit Lokalkolorit. Laut einer Umfrage glauben heute 70 Prozent der Deutschen daher, ihr Einrichtungsstil wurde maßgeblich durch den schwedischen Konzern beeinflusst.
Dass Skandinavien zu einer Marke avanciert ist, liegt aber nicht nur an Ingvar Kamprad. Öffentliches Marketing hilft auch. So organisieren die unter einem Dach in der Berliner Rauchstraße beheimateten Nordischen Botschaften regelmäßig Kulturfeste, Architektur- oder Designausstellungen. Das Finnlandinstitut zeigt im März eine Ausstellung über nordische Architektur und nachhaltiges Bauen.
Menschen wie Ewa Kumlin treiben den Erfolg der Marke Skandinavien voran. Die 57-Jährige ist Leiterin der Svensk Form, einer Organisation, die aus der 1845 gegründeten Schwedischen Vereinigung für Werkkunst hervorging und im Auftrag der Regierung schwedisches Design international bekannt macht. Kumlin sagt: „Der ungebrochene Erfolg des skandinavischen Stils in Deutschland ist auch dem stetigen Austausch zwischen den Ländern zu verdanken.“ Während deutsche Gestalter heute die Designszene im Norden verfolgen, galt der ehemalige Chefdesigner des Elektrogeräteherstellers Braun Dieter Rams in den 70er Jahren als Vorbild einer ganzen Generation skandinavischer Kreativer. „Mit den Deutschen teilen wir eine Menge Werte“, sagt Ewa Kumlin. „Die Liebe zur Natur, zu klaren Materialien und zu Details – und wir teilen die menschlichen Proportionen.“
Kürzlich saß Kumlin mit einem der ersten Ikea-Direktoren Deutschlands zusammen. Er habe ihr erzählt, dass er damals unbedingt die schwedischen Kollegen überzeugen wollte, die Möbel mehr an den deutschen Geschmack anzupassen, sie dunkler und schwerer zu gestalten. „Aber aus Schweden hieß es: Wir exportieren unser Design und nichts anderes. Und heute entspricht genau das dem normalen deutschen Geschmack.“
Von diesem Geschmack profitieren kleine Geschäfte – zum Beispiel das Stue in der Torstraße. Seit 1997 verkauft Heike Rädeker in dem Laden dänische Vintagemöbel. Seit der Eröffnung ihres Geschäfts beobachtet sie eine gravierende Veränderung: „Meine Kunden werden immer jünger.“ Viele von ihnen seien gerade von zu Hause ausgezogen und würden ihr Geld in eine Einrichtung anstatt Reisen investieren, eine Abwendung vom Kurzlebigen hin zu Investitionen in zeitlose Dinge. „Wir wollten uns in dem Alter nicht einrichten, wir wollten flexibel bleiben, vielleicht zieht man ja noch mal nach New York.“ Es regierte eine Angst vorm Spießigsein, sagt sie. Typisch deutsch sei das, im Dänischen gibt es das Wort erst gar nicht. Die Angst davor verschwände langsam, die Menschen würden erkennen, dass Einrichtung und Flexibilität zusammengehen. Auch hier findet eine Skandinavisierung statt.
Thomas und Jon Steinfeld: Ein Haus im Norden, Deutsche Verlagsanstalt 2012, 144 Seiten, 60 Euro
Januar 2013 | Tagesspiegel am Sonntag
Foto: Cover / DVA Verlag