Franziska Klün

Ich bin ein stolzer Entrepreneur

Juli 2013 | JNC News: Seit Generationen ist Carlo Rivettis Familie in der Mode tätig. Stoffe und Kleidung bezeichnet er als seine Kultur. Hier erklärt der Inhaber der Sportswear-Marke Stone Island, warum er im Flugzeug keine Diskussionen führt, wie man Dresscodes umgeht, und warum er für dienstags niemals wichtige Termine ansetzt.

Herr Rivetti, es heißt, es sei nicht ganz leicht, Sie für ein Interview zu gewinnen …
Wie bitte?

Das sagt man doch über Sie.
Ach Quatsch. Unterhaltungen mit mir zu führen ist vielleicht nicht ganz leicht.

Warum das denn nicht?
Wenn ich erst einmal angefangen habe zu erzählen, kann ich nicht aufhören.

Können Sie denn gut erzählen? Italiener haben ja den Ruf, gute Entertainer zu sein.
Ich denke schon. Ich unterrichte seit über zehn Jahren industrielles Design-Marketing an einer der wichtigsten Universitäten Italiens – der Politecnico di Milano. Und ich beobachte, dass meine Studenten niemals einschlafen. Sie gähnen auch nicht. Das heißt doch, dass ich ganz gut darin sein muss, die Menschen zu unterhalten! Und meine Frau Sabina vergleicht mich oft mit dem sehr berühmten Moderator Pippo Baudo. Ich mag es, mit Menschen viel Zeit zu verbringen. In der Universität gibt es jedes Jahr neue Studenten, ich habe jedes Jahr neue Kurse. Und das ist für mich wie bei der Weinherstellung. Es gibt gute Jahre und es gibt schlechte Jahre.

Wie definieren Sie gute Unterhaltung?
Ein guter Entertainer ist jemand, der etwas zu sagen hat. Und ich habe in meinen Vorlesungen jede Menge zu sagen. Schlechte Entertainer erzählen nur von sich selbst. Das passiert leider ziemlich oft. Ich habe eben viel zu berichten, weil ich viel Glück im Leben hatte. Als ich jung war, wollte ich Kleidung machen. Und nach über 50 Jahren mache ich immer noch Kleidung – die Arbeit, die ich liebe.

Ihre ganze Familie arbeitet seit Generationen in der Textilindustrie. Das hat früh abgefärbt?
Ich repräsentiere die achte Generation! Aber das liegt auch daran, dass wir alle früh sterben. Die Rotation ist relativ schnell.

Sind Sie gerade sarkastisch?
Aber es stimmt! Mein Vater starb, als ich gerade mal fünf Jahre alt war. Die Geschichte meiner Familie ist im Grunde eine textilgewordene Historie. Alles begann im kleinen Biella im Piemont, vor etwa 200 Saisons oder so. Im 19. Jahrhundert finanzierte Guiseppe Rivetti – Sohn von Giovanni Battista, dem ersten Kardiermaschinenbetreiber der italienischen Textilindustrie – seine eigene Wollfabrik, indem er heimlich Kühe der familieneigenen Farm verkaufte und das Geld in Webstühle investierte. Im Jahr 1872 hatte er dann seine eigene Wollfabrik eröffnet: „Giuseppe Rivetti e Figli“. Schon war das bei uns entscheidend, was auch heute noch entscheidend ist: Intuition, Innovation und der Drang zum Forschen. Ich wollte nie Formel-1-Fahrer werden – oder Pilot. Stoffe und Kleidung sind meine Kultur. Als ich das erste Mal eine Fabrik betrat, ich erinnere mich noch ganz genau an den Geruch und die Geräusche – da hat es mich erwischt! Das liegt in meiner DNA – die anderen Jungs gingen Fußball spielen, ich stand in einem Geschäft in Turin und verkaufte Kleidung.

Hatten Sie jemals genug von der Textilindustrie?
Nein! Nie! Wenn ich irgendwann aufhöre, höre ich mit allem auf. Dann steige ich aus. Dann gehe ich in die Berge und fahre nur noch Ski. Wenn ich arbeite, habe ich nicht das Gefühl zu arbeiten, ich freue mich jeden Tag, in mein Büro zu kommen. Und wenn ich in ein Restaurant gehe, dann arbeite ich auch. Dann schaue ich mir die Leute an, wie sie sich kleiden, im Kino, im Theater, bei Konzerten – eigentlich arbeite ich 24 Stunden am Tag. Alles, was ich sehe, hilft mir. Selbst im Biergarten.

Was sehen Sie denn in einem Biergarten?
Zunächst einmal: Der deutsche Markt ist mitsamt seinen Biergärten nach Italien und Großbritannien unser drittwichtigster. Aber hier liegt noch sehr viel verborgenes Potenzial. Es hilft ungemein, an ein Land zu denken, wenn man eine Kollektion fertigt. Wenn ich zum Beispiel im Biergarten in München sitze, schaue ich mir an, wie sich die Menschen kleiden, ich fange an, sie zu verstehen. Und im Idealfall erkenne ich, was der Markt noch braucht.

Und was braucht der deutsche Markt?
Die Deutschen haben sich seit der Wiedervereinigung enorm weiterentwickelt. Sie sind offener geworden, was die Mode anbelangt. Auch wenn ich das Wort „Fashion“ furchtbar finde, damit haben wir ja nichts am Hut. Was wir machen, ist Kleidung für Männer.

Und das bedeutet?
Ich sage immer, Männer sind sehr einfach gestrickt. Frauen sind kompliziert. Aber die Männer, die muss man nur zu dritt zusammensetzen, ihnen ein wenig Bier zu trinken geben und schon reden sie über alles. So läuft die Kommunikation. Ganz einfach. Und so arbeiten wir auch in unserer Werbung. Alles ist clean und funktional. Wir lassen uns gern von Autos inspirieren, die erzählen einem auch nicht, wie schön das Auto ist, sondern wie man es benutzt und was es leisten kann. Und so ist es auch mit den deutschen Männern und Kleidung. Die wollen wissen, was die Jacke kann, und dann entscheiden sie, ob sie sie gut finden oder nicht.

„Ich wusste, was hier gemacht wird, das ist die Zukunft.“

Sie sagen, Sie und Stone Island, das war Liebe auf den ersten Blick.
Wie wahr! Ich stamme aus Turin und meine Familie gründete in den 50ern einen der führenden europäischen Bekleidungshersteller – die Gruppo Finanziario Tessile, kurz GFT. Aber das Unternehmen war auch ein wenig wie Fiat, die Automarke – sehr organisiert, ein bisschen wie eine Armee. Wir haben formelle Kleidung für Männer und Frauen gemacht. Aber wissen Sie, ich bin mehr der Segelboottyp. Der Wind ändert sich ständig! Auf einem großen Schiff ist man zwar sicher, aber man spürt das Meer nicht so authentisch wie bei einem kleinen Boot.

Und Stone Island war Ihr Segelboot?
Ein bisschen war das so. Als ich in die Firma kam, Anfang der 80er-Jahre, Massimo Osti hatte das Unternehmen gerade gegründet, da wusste ich: Was hier gemacht wird, ist die Zukunft. Ich dachte an meine Kinder, und wie diese zur Schule gingen. Ich hatte in ihrem Alter das Haus in einer grauen Hose, einem blauen Jackett und einer Krawatte verlassen. Die gingen in Schuhen, die meiner Generation als Tennisschuhe bekannt waren. Heute nennen sie es Sneakers. Ich wusste: Diese Generation wird alles verändern. Die werden keine Krawattenträger mehr. Also legte ich meine ab und mein Sakko dazu und stieg bei Stone Island ein.

Weil Sie wussten, dass die Zukunft in der Sportswear liegt?
Ja, und in der Casual Wear. Wir hatten diesen neuen speziellen Stoff namens „Tela Stella“, ein Material, das auf beiden Seiten unterschiedliche Farben hatte und normalerweise für Lkw-Planen verwendet wurde. Das hatte nichts mit Fashion zu tun – und das bildet noch heute den Kern unserer Firma. Wir forschen nach Materialien, die nicht mit der Modewelt verknüpft sind, nach neuen Färbe- und Nähtechniken. Massimo Osti war ein Genie, seine Ideen entsprangen der Military- und der Workwear, immer gepaart mit sehr viel Textilforschung. All das elektrisierte mich.

Wenn die Zukunft informell ist, wird es dann irgendwann keine Anzüge mehr geben?
Schauen wir doch mal nach China. Dort wollen die Leute heute ihre Macht demonstrieren, also brauchen sie noch die formelle Kleidung. In Europa haben wir diese Phase schon durchlebt, und der Kunde versteht hier, dass man auch ohne Krawatte zur Arbeit gehen kann. Denn alles andere wird irgendwann zu einer Uniform. Es ist doch schrecklich, in einem Jackett und einer Krawatte zu arbeiten, nach zwei Stunden will man alles aufmachen.

Ist die Zukunft Chinas auch informell?
Sicherlich. Sie werden das Gleiche erleben wie wir in Europa. Nur werden sie schneller sein. Wir brauchten 20 Jahre, die brauchen fünf. Wir haben ja schon vorgemacht, wie es geht.

Also stimmt es tatsächlich: Der Anzug wird aussterben?
Nein, den wird man immer brauchen – für Zeremonien und dergleichen. Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Meine Familie ist da Gott sei Dank sehr locker, aber kommende Woche ist die Taufe meines Neffen …

Und Sie werden einen Anzug tragen?
Ja. Zum ersten Mal seit zehn Jahren – das letzte Mal holte ich den anlässlich der Hochzeit eines anderen Neffen aus dem Schrank.

„Alle anderen sehen aus wie Pinguine – nur ich wie ein Prinz“

Und wenn Sie in die Oper gehen? Oder ins Theater? Was tragen Sie?
Ich sehe aus wie heute: Jeans, Crocs, Sweater. Warum nicht? Ich besitze alle Stone Island-Kollektionen in allen Farben. Dann ziehe ich eben einen schwarzen Pullover mit einem Zipper an – das ist sehr elegant. Und wenn ich, wie kürzlich, zu einer Veranstaltung mit Black-Tie-Dresscode eingeladen bin, dann trage ich mein indisches weißes Gewand mit goldenen Verzierungen, kombiniert mit schwarzen indischen Hosen und schwarzen Crocs. Ich sage Ihnen, alle anderen sehen dann aus wie Pinguine, nur ich wie ein Prinz.

Wie viel Prozent Ihrer Garderobe stammt von Stone Island?
98 Prozent, schätze ich. Ich besitze noch meine Fußballsachen, die sind von anderen Marken, meine indischen Kleider – und ein paar Teile von meiner anderen Firma – der C.P. Company.

Welche Sie 2010 verkauften.
Das war eine essenzielle strategische Entscheidung. Ich sah die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die auf uns alle zukamen, und ich wusste, wir müssen uns anders aufstellen. Mein Schlüsselbegriff war: Fokus. Ich verkaufte C.P., so dass wir uns auf Stone Island konzentrieren konnten, auf die Struktur unseres Unternehmens, auf die richtigen Veränderungen. Wir änderten unsere Strategien im Marketing, im Design, bei der Presse. Wir mussten uns neu aufstellen – und es hat funktioniert. Unsere steigenden Umsatzzahlen belegen es.

Sie beschäftigen heute ein mehrköpfiges Designteam, weil, wie Sie sagen, das sehr viel zeitgemäßer sei. Früher war erst Massimo Osti und dann Paul Harvey im Design tätig. Nun sind es mehrere kreative Köpfe. Warum?
Früher war es doch so: In der Mode konnte jeder machen, was er wollte. Der Markt hat es angenommen. Heute herrscht, Gott sei Dank, etwas mehr Demokratie. Wir möchten nicht dem Markt folgen, aber wir müssen ihn antizipieren. Der Designer war früher immer der größte, der, zu dem man aufblickt – und zu dem man heute keinen Zugang mehr findet. Ich möchte normale Leute, die nah am Markt dran sind. Nur so erreichen wir die junge Generation.

Vergangenes Jahr feierte Stone Island sein 30-jähriges Jubiläum mit einem großen Fest in Florenz. Wie stolz waren Sie?
Wir feierten in der Stazione Leopolda – und ich hatte die ganze Organisation an meine Mitarbeiter abgegeben, auch meine Frau war involviert. Ich wollte überrascht werden. Ich war aber nicht überrascht, ich war überwältigt. Sie haben eine irrsinnig aufwendige Ausstellung organisiert. Ich sah in die Gesichter all der Arbeiter – von denen, die erst seit kurzem mit dabei sind, und von denen, die schon seit Anfang an hier arbeiten. Es war unglaublich. Wissen Sie, ich bin kein einfacher Entrepreneur – ich bin ein stolzer Entrepreneur! Auf jedes einzelne Kleidungsstück, das mein Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten verlassen hat, bin ich stolz. Es ist ein Privileg, der Inhaber von Stone Island zu sein. Aber ich teile dieses Privileg jeden Tag mit den 125 Menschen, die bei Stone Island arbeiten. So sehe ich das.

Es ist eine große Verantwortung, der Arbeitgeber von 125 Menschen zu sein.
Es ist, als hätte ich eine Familie mit 125 Kindern.

Macht Sie das manchmal nervös?
Es ist fantastisch. Hat man einen Sohn, ist man verantwortlich. Hat man 125 davon, teilt man die Verantwortung. Ich fühlte mich nur einmal alleine, das war der Moment, als ich C.P. Company verkauft habe. Normalerweise bin ich aber sehr ausgeglichen.

Nie Schlafprobleme gehabt?
Das Gegenteil ist der Fall! Wenn ich ein Problem habe, schlafe ich ein. Das ist ein Geschenk. Denn wenn ich aufwache, bin ich viel entspannter und sehe die Sachen klarer. Als ich bei GFT in der Human-Resources-Abteilung gearbeitet habe, hatte ich einen sehr professionellen Kollegen. Wir flogen zusammen um die ganze Welt. Und er sagte immer: Lass uns darüber im Flieger sprechen. Aber mit mir ist das nicht möglich.

Sie schlafen?
Ich habe noch nie einen Film in einem Flugzeug gesehen. Zwei Stück Käse, ein Glas Portwein und weg bin ich.

Eine letzte Frage: Sie tragen sehr viele Armbänder. Welche Bedeutung haben die?
Das sind fast alles Geschenke. Eins kommt aus der brasilianischen Kirche Bonfim da Bahia – wenn sich das einmal löst, muss ich damit schnell zu frischem Wasser, so der Brauch. Ich bin sehr abergläubisch. Ich würde auch nie einen wichtigen Termin auf Freitag oder Dienstag legen. Das bringt Unglück. Keine Essen mit 13 Gästen. Und ich betrete auch nie ein Flugzeug mit dem linken Fuß.

Carlo Rivetti, 57 Jahre, wuchs im Piemont in Italien auf. Seine Familie gehört zu den bekanntesten Dynastien in der italienischen Textilwelt. Rivetti studierte Wirtschaft in Mailand, heute ist er Inhaber und Creative Director der Sportswear-Marke Stone Island. Für Rivetti muss ein Produkt das Ergebnis einer Kombination aus Technologie, Funktion, Eleganz und Qualität sein. Das Unternehmen feierte im vergangenen Jahr 30-jähriges Jubiläum. Carlo Rivetti sitzt in den Vorständen verschiedener Verbände und Stiftungen und unterrichtet an unterschiedlichen Universitäten. Er wohnt in Mailand mit seiner Frau Sabina und seinen drei Kindern.

Juli 2013 | JNC News