Franziska Klün

Auf leisen Sohlen

Januar 2014 | JNC News: Sie lesen keine Modemagazine, interessieren sich nicht für Trends und kaufen sich erst neue Schuhe, wenn die alten auseinanderfallen: Antoine und Julien Agulhon von La Botte Gardiane sind wahrlich keine klassischen Modemacher. Aber alle lieben ihre Cowboystiefel.

Es ist Mitte November und für deutsche Besucher ist bereits das Verlassen des Flughafengebäudes im südfranzösischen Montpellier eine Wohltat. Antoine Agulhon wartet in dünnem Wollpullover am Gebäudeeingang, die Sonne scheint, der Himmel ist strahlend blau. Agulhon ruft: „Bienvenu!“ Er hat eine große Papiertüte mitgebracht, darauf der Schriftzug seines Unternehmens „La Botte Gardiane“ – nur zur Sicherheit, falls man sich nicht erkennt.

Gemeinsam mit seinem Bruder Julien produziert Antoine Agulhon in Südfrankreich Schuhe, 20.000 Stück im Jahr. Rund 800 davon sind die echten Bottes Gardianes – auf Deutsch bedeutet der Name so viel wie „Wächterstiefel“. Einst trugen die Cowboys der Camargue die Schuhe aus festem Leder, noch heute sind sie für die Ewigkeit gemacht. Um die Wildpferde und Stiere beisammenzuhalten, brauchten die Cowboys robustes Schuhwerk. Mittlerweile sind die Stiefel das Markenzeichen des Unternehmens.

Dieses Unternehmen, das eher einer Manufaktur gleicht als einer Fabrik, befindet sich in die Gemeinde Villetelle, etwa 30 Kilometer von Montpellier entfernt. Auf dem Weg dahin passiert man die sumpfige Landschaft, durch die auch einst die Cowboys ritten. Es geht vorbei an den vielen Pferden und den Flamingos, für beide Tierarten ist die Region berühmt. Die Agulhons sind hier geboren, mit ihren Familien leben sie nicht weit von ihrem Betrieb entfernt. In Villetelle kennt man sich, hier wundert sich niemand, wenn der Dorf-Sheriff im Restaurant mit seinen zwei Kollegen eine Anderthalb-Liter-Karaffe Rotwein zum Mittagessen genießt.

The Excellence of French Know-how

Einst gab es in der Gegend 20 Betriebe, die die Bottes Gardianes herstellten, heute sind nur die Agulhons übrig geblieben. Dafür haben sie das EPV-Zertifikat erhalten, das steht für „Entreprise du Patrimoine Vivant“, „The Excellence of French Know-how“ oder auch: das lebendige Firmenerbe. Schließlich gelten die Schuhe als eine Art Kulturgut – den meisten Franzosen sind die Namen Les Bottes Gardianes oder Les Bottes Camargues, wie das Modell auch genannt wird, geläufig. „In den 80ern“, sagt Agulhon, „waren die Schuhe in Frankreich wahnsinnig gefragt.“ Es war die Zeit der populären TV-Spots einer großen Zigarettenmarke, in denen Cowboys durch die amerikanische Wildnis ritten und eine Art kollektives Sehnsuchtsgefühl der westlichen Gesellschaft nach Natur und Freiheit auslösten. Die Stiefel der Camargue waren die französische Antwort darauf.

Heute könnte man sämtliche im Haus der Agulhons produzierten Schuhe wieder als eine Antwort werten. Zum Beispiel auf die Schnelllebigkeit der Modebranche, auf die undurchsichtigen Produktionsbedingungen oder das Aussterben echter Handwerksbetriebe. Doch hier in Villetelle geht es nicht um große Statements, es geht auch nicht um Gewinnmaximierung oder darum, aktuellen Trends zu folgen. Hier geht es ganz einfach um gute Schuhe.

Julien und Antoine Agulhon stehen auf dem Parkplatz ihrer Schuhmanufaktur unter zwei Meter hohen Olivenbäumen und lachen, als sie erzählen, dass sie sich aus schönen Schuhen eigentlich gar nicht viel machen. Jeder von ihnen besitzt gerade mal drei Paar aus dem eigenen Haus, insgesamt kommen sie jeweils auf knapp zehn. Neue Schuhe kaufen sie sich erst, wenn die alten auseinanderfallen. Beim Interview sind sie entlarvend ehrlich, sagen Sätze wie: „Ich weiß nicht, warum unsere Schuhe bei Frauen so gut ankommen, ich bin doch ein Mann. Vielleicht weil unser Leder so gut ist? Was glauben Sie denn?“ Es scheint, als könnten ihnen die Welten der Elles, Vogues, Grazias und Cosmopolitans, die regelmäßig die Schuhe der Agulhons vorstellen, kaum fremder sein. Sie selbst, da sind sie wieder ganz ehrlich, lesen solche Modemagazine jedenfalls nicht.

„Ich weiß nicht, warum unsere Schuhe bei Frauen so gut ankommen, ich bin doch ein Mann.“

Dabei sind ihre Schuhe jedem Modemagazin-Trend gewachsen: Neben den schlichten Stiefeln der Cowboys gibt es auch lammfellgefüllte Modelle, elegante Reiterstiefel und Loafers, Sandalen und Chelsea Boots, für Männer und für Frauen. Und sie alle vereint die Reduzierung aufs Wesentliche: robustes Leder, dicke Sohlen, klassische Farben. Schuhe aus einer anderen Zeit, die nach einer Saison nicht gleich ausgelatscht, sondern erst richtig eingelaufen sind und bei richtiger Pflege und regelmäßiger neuer Besohlung durchaus ein Leben lang halten sollen. „Wir reparieren auch die Schuhe unserer Kunden“, sagt Antoine Agulhon. Zu vielen von ihnen stehen sie in direktem Kontakt, übernehmen auch mal Sonderanfertigungen, „wenn die Zeit es zulässt.“

Die Zeit allerdings wird zunehmend zu einer Herausforderung in dem Familienbetrieb. Im Frühsommer 2012 eröffneten die Agulhons ihr erstes eigenes Geschäft auf der Ruhe de Charonne in Paris, geführt wird es von Antoines und Juliens 30-jähriger Schwester. „Und sie interessiert sich tatsächlich für Mode“, sagt Antoine, wieder entwaffnend ehrlich. Seit der Eröffnung des Geschäfts ist viel passiert. „Plötzlich begriffen wir, wie gefragt wir sind“, sagt Agulhon. Sie begriffen auch, dass sie mehr produzieren könnten, wenn sie wollten. Zunehmend stoßen sie nun an ihre Kapazitätsgrenzen.

Das wiederum überrascht nicht, kennt man das Innere des unscheinbaren Hauses in Villetelle, wo das Unternehmen beheimatet ist: Inklusive Produktionsstätte, Lager, Showroom und Büro kommen die Räumlichkeiten auf gerade einmal 300 Quadratmeter. 15 Mitarbeiter beschäftigen sie hier, im Büro, an den Näh-, Schleif- und Klebemaschinen. Wenn sie wollten, könnten sie anbauen, ausreichend Platz gäbe es auf dem Grundstück allemal. Sie könnten mehr Mitarbeiter einstellen, mehr Schuhe produzieren, mehr Geld verdienen. Doch Antoine sagt: „Wer schnell wächst, kann auch schnell schrumpfen.“ Julien und er bevorzugen ein langsames, behutsames Wachstum.

Was ein weniger behutsames Management bedeuten kann, haben sie hier in Villetelle beobachten können. Bevor Antoines und Juliens Vater 1995 La Botte Gardiane übernahm, hat das Unternehmen viele Jahre einem Herren gehört, der es 1958 gegründet hatte. Doch irgendwann war er zu alt geworden, wollte aufhören, sich zurückziehen und verkaufte alles an einen Mann, über den Antoine Agulhon sagt, er habe einfach zu viel Rotwein getrunken. Fünf Jahre später war das Unternehmen insolvent – und Michel Agulhon übernahm. Der kannte sich aus mit Schuhen, schließlich besaß er bereits eine Firma für Sicherheitsschuhe – doch gegenüber der wachsenden Konkurrenz aus Asien wollte er sich breiter aufstellen. Er engagierte all die ehemaligen Angestellten wieder, damit das Wissen erhalten blieb. Doch mit der Leitung von zwei Unternehmen war auch ein Schuhexperte wie Michel Agulhon überfordert. Als dann ein Wasserschaden im Unternehmen dazukam, hatte Vater Agulhon ein echtes Problem und Sohn Antoine eine neue Aufgabe.

„Wer schnell wächst, kann auch schnell schrumpfen.“

Der hatte eigentlich Finanzwesen studiert und andere Pläne, er wollte bei einer Bank arbeiten, sich Zahlen widmen und keinen Schuhen. Als sein Vater ihn um Hilfe bat, hatte er gerade seinen Abschluss gemacht. „Ich dachte, ich helfe erst mal aus – und gehe dann zur Bank.“ Doch dazu kam es nicht. Auch wenn Antoine einen schweren Start hatte – „alle Mitarbeiter waren um die 50 und ich kam gerade von der Universität!“ –, sagte er wohl die richtigen Dinge. So zumindest erklärt er sich, dass das Vertrauen der Leute in ihn mit der Zeit wuchs. „Ich war maßlos überfordert und dachte oft, es sei zu viel, aber dann wurden wir immer kreativer und die Zahlen verbesserten sich.“

Nach vier Jahren aber war er wieder an dem Punkt, dass ihm alles über den Kopf wuchs – nun bat er seinen Bruder um Hilfe. Auch der hatte andere Pläne, er war Elektriker und arbeitete in einer Software-Firma in Lyon. Doch er war nicht ganz glücklich dort, also dachte er, ähnlich wie sein Bruder ein paar Jahre zuvor: „Ich helfe erst mal aus und suche dann einen neuen Job.“

Seit sieben Jahren arbeiten sie nun Seite an Seite, der Vater hat sich längst zurückgezogen. Weil sie sich beide in allen Bereichen auskennen wollen und müssen, wechseln Julien und Antoine alle sechs Monate ihre Funktionen. Der eine schmeißt das Büro, der andere die Produktion und umgekehrt. „Das bringt Abwechslung und neue Ideen“, sagt Antoine.

Neue Designs von Kunden und Praktikanten

Neue Ideen für Schuhdesigns erhalten sie nicht nur aus den eigenen Reihen, manchmal sind es auch die der Kunden: „Wenn sie einen Sonderwunsch haben und der uns gefällt, behalten wir den Entwurf“, sagt Antoine. Auch ihre Praktikanten dürfen entwerfen, meistens seien gute Ideen darunter. Doch die Kollektionen basieren zum Großteil auf Klassikern. Man müsse das nicht alles jedes Jahr neu erfinden. Fünf bis sechs neue Designs kommen pro Saison dazu, und die, die nicht gut laufen, fallen wieder raus. Auf Messen gehen sie selten, normalerweise nur auf die Première Classe in Paris. Und Anfragen von den großen Häusern, wie neulich von Céline, nehmen sie nur noch ungern an, wenn nicht auch ihr Name draufsteht. „Co-Branding ist o.k., aber nur für andere produzieren wollen wir nicht mehr. Dafür haben wir mittlerweile einfach zu viel zu tun.“ Schließlich hätten beide Familie und können sich Besseres vorstellen als einen Schichtbetrieb, in dem 24 Stunden am Tag gearbeitet wird. „Vielleicht vergrößern wir im kommenden Jahr die Fabrik“, sagt Antoine – 700 Quadratmeter mehr Fläche wären auf dem Grundstück möglich –, „vielleicht warten wir aber auch noch ein paar Jahre.“

Januar 2014 | JNC News