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Oktober 2009 | zitty: Die Illustrative gewährt einen fundierten Einblick in die Welt der Gebrauchskunst
Menschenleere Häuserschluchten durchschneiden ein Netz von Wolkenkratzern, auf den Dächern werben riesige Standbilder für Motoröle, ein Zeppelin gewinnt langsam an Höhe. Es ist nicht schwer, Roman Bittners retrofuturistische Großstadtutopien an das New York des frühen 20. Jahrhunderts zu koppeln. Seine Illustrationen wirken in der Motivwahl aus der Zeit gefallen und in der pixelähnlichen Technik modern. Vielleicht erklärt diese Widersprüchlichkeit Bittners Erfolg. Er ist einer der gefragtesten Illustratoren Berlins, „Die Zeit“ druckt seine Bilder genauso wie der Hörbuch-Verlag Mega 1, seine Design-Agentur Apfel Zet gestaltet einen Trend mit: In den Printmedien erfahren Illustrationen als Textbebilderung gerade eine Renaissance.
Bittners Herzblut gehört aber den Stadtlandschaften. Neue Werke wie die rechts abgedruckte Computerzeichnung zeigt er auf der Illustrative, dem führenden internationalen Festival für zeitgenössische Kunst und Grafik. Bittner ist ein Stammkünstler der Veranstaltung, er nimmt zum vierten Mal daran teil. Seit er im Frühjahr 2006 von dem Galeristen Pascal Johanssen gebeten wurde, etwas zu seiner geplanten Illustratorenausstellung beizutragen, arbeitet Bittner an seinen „Ancient Cities Of Tomorrow“.
Mittlerweile ist aus der kleinen Illustratorenausstellung ein großes Festival geworden. Neben einer Ausstellung finden Workshops, Lesungen und Symposien statt. Der Young Illustrators Award wird an den besten Nachwuchsillustrator vergeben. Das Magazin „Objects“ gehört zum Kommunikations- Netzwerk der Illustrative und berichtet umfassend über Neuigkeiten aus der Welt der angewandten Künste.
„Es war ein Zufall“, antwortet Johanssen, wenn man ihn nach seinen Beweggründen fragt, die Illustrative ins Leben zu rufen, „ein Nachbar, der Illustrator ist, kam in meine noch recht junge Galerie und fragte mich, ob ich nicht mal Lust hätte, eine Illustratorenausstellung zu machen“. Zu der Zeit hielt die Illustration zwar gerade wieder Einzug in Zeitungen und Zeitschriften, aber sie in Galerien als Kunst zu präsentieren? Johanssen war unsicher. Er arbeitete sich in das Thema ein und erkannte, dass er möglicherweise auf eine Nische gestoßen war: „Es gibt keine Veranstaltung, die man mit der Illustrative vergleichen kann. Dabei ist die Illustration eine alte Kunstform, sie war nur in Vergessenheit geraten. Auch Salvador Dalí, Andy Warhol oder Lyoner Feininger haben als Illustratoren angefangen.“
Tatsächlich genossen Illustratoren in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts besonders in Modezeitschriften Starstatus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Illustration fast vollkommen von der Fotografie verdrängt, das Foto war ein unverfälschliches Dokument. Erst mit der Entwicklung von Photoshop und stetig wachsenden Manipulationsmöglichkeiten hat das Medium an Glaubwürdigkeit verloren. Seitdem werden visuelle Medien neu bewertet: Gerade die subjektive Note ist das, was Art-Direktoren und Chefredakteure heute als besonders reizvoll empfinden. Sie regen die Fantasie an.
Johanssens Idee stieß neben viel Skepsis auch auf großes Interesse. Schnell war klar: um einen fundierten Einblick in die Illustratorenszene zu gewähren, würden die Kapazitäten der Galerie nicht ausreichen. Etwas Größeres musste her, die Illustrative war geboren.
Seitdem verfolgt Pascal Johanssen mit seiner Partnerin Katja Kleiss das Ziel, das künstlerische Potenzial oder, betrachtet man beispielsweise Bittners Werke, den kreativen Größenwahnsinn dieser grafischen Dienstleister auszuschöpfen und auszustellen. Mit Erfolg – letztes Jahr kamen knapp 20.000 Besucher, rund 2.000 junge Illustratoren aus 40 Ländern bewarben sich für den Young Illustrators Award.
Diesen Herbst kehrt das Festival nach einer erfolgreichen Reise in die europäischen Zentren der zeitgenössischen Illustration, Paris und Zürich, zu seinen Ursprüngen zurück. 600 internationale Werke werden von Mitte Oktober bis Anfang November in der Villa Elisabeth in der Invalidenstraße ausgestellt. Zum besonderen Stolz der Organisatoren sind darunter auch japanische Künstler, die noch nie außerhalb Asiens zu sehen waren. „In Japan, genauso wie in Los Angeles und New York, gelten Illustrationen viel mehr als Kunst als hier“, so Katja Kleies.
Doch nicht allen liegt die Diskussion über den künstlerischen Wert am Herzen. „Ich muss meine eigene Arbeit nicht aufwerten, indem ich sie Kunst nenne“, sagt Roman Bittner. Für ihn ist die Kunst in einen hoch codierten, kryptischen Bereich vorgestoßen, während die Illustration immer nah am Sujet bleibt: „Normalerweise überlasse ich das mit der Aussage lieber den Konzeptkünstlern. Illustratoren sind eben wie Filmkomponisten, sie müssen alles können, ob Horrorfilm oder Historiendrama, sie müssen die richtige Musik dazu komponieren.“ Und so sei das auch bei Illustratoren, sie müssten im Gegensatz zum Künstler alles zeichnen, alles bedienen können.
Auch dieses Jahr hat Bittner wieder eine weitere „Ancient City Of Tomorrow“ entworfen: „Das ist meine Traumvorstellung einer Großstadt, je dichter und höher, desto besser“. Für nächstes Jahr plant die Illustrative den Sprung nach New York. Stellt man Johanssen die Frage, warum niemand vor ihm auf die Idee kam, der Illustration eine Plattform zu bieten, antwortet er mit einer Gegenfrage: „Warum kam vor Steve Jobs niemand auf die Idee, einen Mac zu erfinden?“ Vielleicht ist es solches Selbstbewusstsein, an dem es der Illustratorenszene bis dahin gefehlt hat.
08.10.2009 | zitty
Illustration: Roman Bittner / Apfel Zet